Bevor er intensiver darüber nachdenken konnte, fuhr Chris neben ihm erschrocken zusammen, und als Mike sich herumdrehte und in dieselbe Richtung sah wie er, erkannte er, dass sich das Wasser des kleinen Sees wieder bewegte. Diesmal tauchte jedoch kein Haifisch-Ungeheuer aus den Wellen auf, sondern ein struppiges schwarzes Etwas, das mit heftigen Schwimmbewegungen zum Ufer paddelte. Chris fuhr erneut zusammen und Mike machte eine beruhigende Geste.
»Keine Angst«, sagte er. »Das ist Astaroth. Ein Freund.«
Schön, dieses Wort einmal aus deinem Mund zu hören,maulte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Hältst du es für eine gute Idee, deine Freunde in Todesangst zu versetzen?
»Todesangst?«, fragte Mike verständnislos.
Astaroth schüttelte sich das Wasser aus dem Fell und kam langsam näher.Ihr seid seit über einer Stunde verschwunden,sagte er.Sarn und die anderen glauben, dass ihr ertrunken seid. Der See ist fast vollkommen zugeschüttet.
»Und was machst du dann hier?«, fragte Mike laut. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Chris ihn immer verwirrter anstarrte. Wahrscheinlich fragte er sich, was um alles in der Welt Mike da tat. Vielleicht zweifelte er aber auch einfach an dessen Verstand.
Euch suchen!antwortete Astaroth gereizt.Ben und Juan haben so lange herumgenörgelt, bis ich es riskiert habe.
»Riskiert?«
Ich hätte ertrinken können.
»Du?« Beinahe hätte Mike laut gelacht. »Du kannst unter Wasser atmen, Astaroth.« Astaroth blinzelte.Kann ich?fragte er. »Kannst du«, bestätigte Mike. Er grinste – aber eigentlich war die Sache gar nicht lustig.Jetzt, wo du es sagst,sagte Astaroth nachdenklich.Komisch. Ich hatte es glatt vergessen.»Was tut Ihr da?«, fragte Chris verwirrt. »Könnt Ihr –« »– mit ihm reden, ja«, sagte Mike ungeduldig. »Astaroth, was ist los mit dir? So etwas kann man doch
nicht vergessen!«Ich lasse mir doch nicht von dir sagen, was ich kann und was nicht,antwortete Astaroth patzig. Hoch
erhobenen Hauptes marschierte er an Mike vorbei, blickte über den Grat der Geröllhalde – und erstarrte genau so wie Mike vor ein paar Minuten. »Erstaunlich, nicht?«, fragte Mike. »Das ist ein richtiges unterirdisches Land. Und niemand in Lemura
ahnt auch nur etwas davon.«Menschen,murmelte Astaroth.Da sind ... Menschen. Sie beobachten uns.»Menschen?« Mike blickte aufmerksam auf die Ebene hinab, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
Wenn dort Menschen waren, verstanden sie es meisterhaft, sich zu tarnen.Nicht sehr viele,bestätigte Astaroth.Sie haben Angst vor uns. Sie glauben, wir gehören zu Argos.»Dann sollten wir ihnen vielleicht sagen, dass das nicht so ist«, sagte Mike. »Bevor sie etwas tun, was
uns nicht besonders gefällt.«Dazu ist keine Zeit,sagte Astaroth. DasErdbeben ist noch nicht vorbei. Die Höhle kann jeden Momenteinstürzen. Außerdem hat Sarn Angst, dass Argos’ Krieger auftauchen könnten. Lasst uns zurückgehen.
»Und wie?« Mike warf einen schrägen Blick auf den See hinunter. »Ich meine, du kannst ja unter Wasser atmen...«
Theoretisch schon,sagte Astaroth. Er wich Mikes Blick aus und wirkte plötzlich ziemlich verlegen.Hab ich aber nicht.
»Wie bitte?!« Die Vorstellung, dass der Kater die Luft angehalten hatte und mit letzter Kraft hierher gekommen war, obwohl er unter Wasser ebenso mühelos atmen konnte wie hier oben, erschien Mike so komisch, dass er laut loslachte.
Astaroth schenkte ihm einen giftigen Blick.Immerhin habeichnoch nicht meinen eigenen Namen vergessen,sagte er beleidigt.
Mike grinste noch breiter. »Daran, wie man Luft holt, erinnere ich mich jedenfalls ganz gut.«
Astaroth drehte sich beleidigt herum, stiefelte davon und sprang ohne ein weiteres Wort ins Wasser. Nach einem letzten, nachdenklichen Blick auf die Ebene auf der anderen Seite wandte sich Mike um und folgte dem Kater.
Sie mussten insgesamt dreimal ansetzen, um die Erzgruben wieder zu erreichen. Der Weg, der durch einen schmalen, unterirdischen Gang führte, war nicht einmal allzu weit, aber die unter Wasser liegende »Eisengrube« war fast vollkommen verschüttet. Zwischen den kreuz und quer liegenden Felsbrocken waren zum Teil nur schmale Lücken geblieben, durch die Astaroth zwar mühelos passte, Chris und Mike sich aber nur unter Lebensgefahr hindurchquetschen konnten. Als sie es endlich geschafft hatten, das rettende Ufer zu erreichen, war Mike wieder total erschöpft und erneut am Rande der Bewusstlosigkeit.
Nachdem er wieder halbwegs zu Kräften gekommen war und sich umsah, erschrak er zutiefst. Astaroth hatte keineswegs übertrieben. Der Boden zitterte noch immer leicht und die ganze, riesenhafte Höhle bot einen entsetzlichen Anblick. Sie war mehr als zur Hälfte eingestürzt. Zwei oder drei der Seen, aus denen die Sklaven die Erzknollen heraufholten, waren unter Tonnen von Felsen verschwunden und von überall her drang das Stöhnen von Verletzten an sein Ohr. Singh stand in einiger Entfernung da und redete heftig gestikulierend auf Ben und Juan ein, aber Mike musste nur einen einzigen Blick in ihre Gesichter werfen, um zu erkennen, dass sie kein Wort von dem verstanden, was er ihnen begreiflich zu machen versuchte. Er machte sich jedoch keine allzu großen Sorgen. Ihre Erinnerungen würden zurückkehren, genau wie seine eigenen; spätestens mit Astaroths Hilfe. Im Moment jedoch war keine Zeit dafür.
Mike rappelte sich mühsam hoch, wobei er Sarns hilfreich ausgestreckte Hand ignorierte. »Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte Sarn. »Wir dachten schon, ihr wäret ertrunken.«
»Viel hätte auch nicht gefehlt«, antwortete Mike. »Jedenfalls waren wir schon fast in einer Art Paradies ...
Wusstest du, dass nur ein paar Meter unter euren Füßen
eine riesige fruchtbare Höhle liegt? Ich schätze ... drei-oder
viermal so groß wie Lemura?«
Irrte er sich oder schrak Sarn ein ganz kleines bisschen zusammen, als er die Höhle erwähnte?
Dann aber zuckte der ehemalige Krieger nur mit den Schultern und sagte: »Das verbotene Land, ich weiß. Wir können nicht dorthin. DieWächtertöten jeden, der es versucht. Niemand, der je dorthin gegangen ist, ist bisher zurückgekommen.«
»Und woher wisst ihr dann davon?«, fragte Mike. Sarn zuckte erneut mit den Schultern. »Gerüchte«, sagte er. »Uralte Märchen. Aber könnten wir uns darüber vielleicht später unterhalten – bevor uns der halbe Berg auf den Kopf fällt?«
Er deutete zur Höhlendecke hinauf. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie sich noch immer leicht bewegte. Dann und wann polterte ein Stein zu Boden. Sarn hatte Recht. Sie mussten hier heraus.
»Was ist mit den Verletzten?«, fragte Mike.
Sarns Gesicht verhärtete sich. »Es sind Argos’ Krieger«, sagte er. »Sollen wir unsere eigenen Leben riskieren, um die Männer zu retten, die unseren Tod wollen?«
»Für uns habt ihr euer Leben auch riskiert«, sagte Mike.
»Das war etwas anderes.« Sarn schüttelte heftig den Kopf. »Und noch einmaclass="underline" Wenn wir noch lange hier herumstehen und reden, dann war alles umsonst. Ich fürchte, die gesamte Höhle steht kurz davor einzustürzen.«
Was das für Lemura bedeutete, wagte sich Mike gar nicht vorzustellen. Der riesige unterirdische Berg war nicht nur einer der Stützpfeiler, auf denen die gesamte Unterwasserkuppel ruhte, sondern praktisch auch die einzige Quelle für Eisenerz und andere Rohstoffe.