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»Kommt jetzt«, sagte Sarn. »Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Seltsam – aber Mike hatte immer mehr das Gefühl, dass Sarn nicht nur aus Angst, die Höhle könnte einstürzen, so sehr auf den Aufbruch drängte, sondern viel mehr um von irgendetwas ganz Bestimmtem abzulenken. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wovon. Also nickte er nur und ging mit schnellen Schritten zu Singh hinüber. Ben und Juan sahen ihm neugierig, aber auch vollkommen verständnislos entgegen. Und er sah in ihren Augen dieselbe tief eingegrabene Angst, die er auch schon bei Chris gesehen hatte.

»Sie erinnern sich an nichts!«, sagte Singh. »Weder an dich noch an mich oder die NAUTILUS ... an gar nichts.«

»Genau wie Chris«, sagte Mike. »Außerdem sind sie in einem furchtbaren Zustand.«

»Argos’ Leute haben anscheinend vorgehabt, sie sich totarbeiten zu lassen«, sagte Singh zornig. »Wusstest du, dass sie das Erz seit Wochen ganz allein aus dem Wasser holen mussten?«

»Wieso?«, fragte Mike erstaunt.

»Weil dieWächteruns nichts getan haben«, antwortete Ben an Singhs Stelle. »Es ist sehr gefährlich. Sie tauchen immer wieder auf und greifen die Männer an, die die Erzknollen heraufholen. Sie haben viele gepackt und in die Tiefe gerissen. Nur uns nicht. Als die Wachen dies gemerkt haben, haben sie nur noch uns ins Wasser geschickt.«

»DieWächterhaben die Männer angegriffen?«, vergewisserte sich Mike. »Du meinst diese ... Haifischwesen?«

»Sie packen sie und zerren sie in die Tiefe«, bestätigte Ben. »Niemand ist je wieder aufgetaucht.«

Nicht sehr weit entfernt krachte ein Felsbrocken von der Größe eines kleinen Hauses zu Boden und ließ die gesamte Höhle erbeben. Es hätte des bösen Blickes, den Sarn ihnen zuwarf, gar nicht mehr bedurft, um ihn nun endgültig zur Eile anzuspornen.

Der Weg nach oben erwies sich als weit mühseliger und schwieriger, als Mike erwartet hatte. Er hatte halbwegs damit gerechnet, von Argos’ Kriegern verfolgt zu werden oder dass sie sich gar den Weg freikämpfen mussten. Von den Kriegern des lemurischen Herrschers zeigte sich jedoch keine Spur. Vermutlich hatten sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen, als der Boden zu schwanken begonnen hatte.

Trotzdem wurde der Rückweg zu einem lebensgefährlichen Abenteuer. Der Weg, den sie gekommen waren, war unpassierbar geworden und auch der offizielle Abstieg in die Eisengruben hinab war zum Teil verschüttet, sodass sie zu mühseligen und kräftezehrenden Klettereien gezwungen wurden. Noch immer lösten sich Steine von der Decke oder den Wänden und ein weiterer Mann trug eine schwere Verletzung davon. Sie hatten eine halbe Stunde für den Weg nach unten gebraucht; für den Rückweg benötigten sie annähernd die vierfache Zeit. Nicht nur

Mike war vollkommen erschöpft, als sie endlich wieder aus dem

Berg herauskamen.

Auch hier zeigte sich keine Spur von den Kriegern, die die Sklaven bewacht hatten; ebenso wenig wie von den Sklaven selbst und den wenigen bezahlten Arbeitern, die in der Mine gewesen waren. Von Sarn wusste er, dass in dem Bergwerk mehrere hundert Männer in den Eisengruben lebten und arbeiteten, aber der Platz vor dem Einstieg und auch der nahe Waldrand waren vollkommen leer. Auf dem Weg nach oben hatten sie einige Tote gefunden und eine große Anzahl weggeworfener Werkzeuge und unterschiedlicher Ausrüstungsgegenstände. Es wäre normal gewesen, den Platz vor dem Eingang vollerFlüchtlinge und Überlebender vorzufinden, aber er wirkte wie ausgestorben; nur hier und da lagen einige Felsen herum oder ein in aller Hast fortgeworfenes Werkzeug, eine Waffe.

Als er sich einige Schritte vom Eingang entfernte und herumdrehte, verstand er schlagartig, warum.

Der gesamte Berg war geborsten. Ein gut mannsbreiter, gezackter Riss hatte die Felswand vom Boden bis zur Grenze des Sichtbaren hinauf gespalten. Hier und da lief Wasser aus diesem Riss und noch immer regneten Steine vom Himmel, wenn auch weit entfernt, sodass sie im Moment nicht in Gefahr waren. Aber er konnte gut verstehen, dass keine lebende Seele in der Nähe war. Jedermann, der gesehen hatte, wie dieser ganze gewaltige Berg auseinander barst, musste in heller Panik geflohen sein.

Als Mike sich jedoch weiter umsah, fragte er sich erschrocken, wohin eigentlich.

Die Katastrophe hatte sich nicht nur auf den Berg beschränkt. Sie waren so weit von der Stadt entfernt, wie es hier unten überhaupt möglich war, sodass er sie nur als verschwommenen Schatten erkennen konnte. Trotzdem waren die Schäden, die die Stadt davongetragen hatte, deutlich zu erkennen. Einige der schlanken Türme waren verschwunden und über der gesamten Stadt schien eine Art feiner Dunst zu schweben, der aus der Nähe betrachtet wahrscheinlich aus nichts anderem als dem Rauch der zusammengestürzten Gebäude bestand.

»Großer Gott!«, murmelte Mike.

»Ich weiß zwar nicht, was dieses Wort bedeutet«, sagte Sarn neben ihm, »aber ich glaube, ich ahne es. Es ist furchtbar.«

Mike sah instinktiv nach oben. Die Kuppel war diesmal an vier Stellen geborsten. Große, dunstige Fahnen aus Meerwasser wehten herein und lösten sich auf, bevor sie den Boden berührten. Er sah auch, dass sich die Risse bereits wieder zu schließen begannen – aber wie oft noch? Diese Kuppel mochte ein Wunderwerk atlantischer Technik sein, aber letzten Endes war auch ihrer Belastbarkeit Grenzen gesetzt.

»Es wird schlimmer«, murmelte er. »Was, wenn ihr nicht mehr so viel Zeit habt, wie du bisher geglaubt hast?«

»Dann soll es wohl so sein«, sagte Sarn leise. Er gab sich einen sichtbaren Ruck und fuhr in verändertem Ton fort: »Aber keine Angst. Du und deine Freunde, ihr werdet nicht mehr hier sein, wenn es so weit ist. Wenn wir sofort losmarschieren, können wir Lemura noch vor der nächsten Schlafenszeit erreichen. Der Moment ist günstig. In der Stadt

herrscht mit Sicherheit Chaos. Niemand wird nach uns suchen.«

Mike war verwirrt. Wie konnte Sarn in einem Moment wie diesemdarandenken?

»Du musst das nicht tun«, sagte er. »Singh und ich können die anderen auch allein in die Stadt bringen. Singh weiß, wo die NAUTILUS liegt.«

»Ihr kämt nie an den Wachen vorbei«, widersprach Sarn. »Und wenn es dich beruhigt – die meisten von uns haben Freunde und Verwandte in der Stadt. Wir haben also ohnehin denselben Weg.«

Sie rasteten eine halbe Stunde, um wieder zu Kräften zu kommen und die Verwundeten so weit zu versorgen, dass sie aus eigener Kraft weitergehen konnten, dann brachen sie auf. Die Erde bebte in dieser Zeit ununterbrochen, aber die Risse in Lemuras künstlichem Himmel schlossen sich auch wieder. Mike versuchte ein paar Mal mit Ben, Chris und Juan ins Gespräch zu kommen, gab aber schließlich auf. Auch Astaroth zeigte sich ungewohnt schweigsam und verschwand schließlich ganz; vermutlich, um sich irgendwo im Wald einen Leckerbissen zu erjagen.

Sie marschierten zwei, drei Stunden, ehe sie eine weitere Rast einlegen mussten, und als sie eine gewisse Höhe erreicht hatten und die unterste Ebene Lemuras zur Gänze überblicken konnten, erwartete Mike der nächste Schock: Unter ihnen war eine Anzahl neuer Seen entstanden. Die Korallengruben, in denen er selbst so lange gearbeitet hatte, hatten sich mit eingedrungenem Meerwasser gefüllt. Was Sarn offensichtlich immer noch nicht wahrhaben wollte, war nun nicht mehr zu leugnen: Lemura starb. Und nicht langsam, in Jahrhunderten, wie sie noch am Morgen geglaubt hatten, sondern ungleich schneller. Vielleicht blieben der Stadt auf dem Meeresgrund nur noch wenige Tage.

Lemura kam allmählich in Sicht, und je mehr sie sich der Stadt näherten, desto deutlicher wurden die Spuren der Zerstörung, die das Beben angerichtet hatte. Die meisten Häuser und Gehöfte, an denen sie vorüberkamen, waren beschädigt oder vollkommen zerstört und sie sahen viele Verletzte. Allen Menschen, denen sie begegneten, stand die Angst in die Gesichter geschrieben.