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Wie Sarn gesagt hatte, erreichten sie die Stadt kurz vor Anbruch der Schlafenszeit, die in Lemura die Stelle der Nacht einnahm. Und er hatte auch in einem zweiten Punkt Recht: Lemuras Tore standen weit offen und waren unbewacht und niemand nahm von der kleinen Gruppe auch nur die geringste Notiz.

Sarn hatte gesagt, dass er sie zu einem sicheren Ort bringen würde, wo sie ausruhen und sich auf den letzten, gefährlichsten Teil ihrer Flucht vorbereiten konnten. Mike war zutiefst erschüttert, als sie durch die zerstörte Stadt gingen. Er hatte Schlimmes erwartet, aber die Wirklichkeit übertraf seine Befürchtungen bei weitem.

Buchstäblich kein einziges Gebäude war unbeschädigt geblieben. Die meisten größeren Häuser und Türme waren ganz zusammengebrochen, die Fassaden der anderen Häuser von Rissen durchzogen. Ganze Mauerteile waren auf die Straße gestürzt, Dächer eingesunken. Zahlreiche Bewohner der Stadt

trugen Verbände und er sah mehr als einen Karren, auf denen in Tücher gehüllte Leichname fortgebracht wurden.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Singh, der neben ihm ging. »Mir geht es genauso, glaub mir. Aber wir können nichts für diese Leute hier tun.«

Wahrscheinlich stimmt das auch, dachte Mike niedergeschlagen. Selbst wenn es Argos und seine Krieger nicht gegeben hätte, hätten sie den Menschen hier nicht helfen können. Die NAUTILUS war einfach zuklein,um Tausende und Abertausende von Flüchtlingen in Sicherheit zu bringen.

Trotzdem sträubte sich alles in ihm dagegen, einfach so aufzugeben. Und er verstand auch nicht wirklich, wieso Singh es tat. Gerade der Inder, der vor noch gar nicht allzu langer Zeit Leibeigener und Sklave gewesen war, sollte eigentlich anders denken. Mike hatte mehr als einmal erlebt, dass Singh selbst in vermeintlich aussichtslosen Situationen nicht aufgab.

Auch das Haus, in das Sarn sie brachte, war wenig mehr als eine Ruine. Das Dach war eingestürzt und die komplette Straßenfront einfach verschwunden, sodass das gesamte Gebäude wie eine zu groß geratene, allerdings sehr unordentliche Puppenstube aussah. Sarn führte sie durch das verwüstete Innere des Gebäudes bis zu einer Treppe, die in einen Kellerraum hinabführte. Eine einzelne, stark rußende Fackel verbreitete mehr Schatten als Licht, und Mike rechnete eigentlich damit, dass sie nun weitergingen, um sich irgendwo in dem unterirdischen Labyrinth unter Lemura zu verbergen. Sarn deutete jedoch nur auf den Boden und murmelte müde, dass sie es sich bequem machen sollten. Er war der Einzige, der sich nicht unverzüglich auf dem harten Boden ausstreckte. »Willst du nicht schlafen?«, erkundigte sich Mike. »Du musst doch hundemüde sein.«

»Das bin ich«, bestätigte Sarn. »Aber ich muss weiter. Wir haben nicht viel Zeit. Im Moment herrscht überall Chaos. Die Wachen werden unaufmerksam sein. Aber das bleibt bestimmt nicht lange so. Ich werde gehen und nachsehen, ob der Weg noch frei ist, den ich kenne. Ich fürchte, dass auch hier unten viele Gänge eingestürzt sind.« Er wiederholte seine deutende Geste, obwohl sich Mike längst auf dem nackten Boden ausgestreckt hatte. »Schlaf. Viel Zeit ist nicht. Ich bin in ein paar Stunden zurück und dann müssen wir vielleicht sofort aufbrechen.«

Er ging. Mike sah ihm nach, bis er im Halbdunkel des Kellers verschwunden war. Etwas polterte, dann hörte er ein Knarren wie von einem uralten, rostigen Scharnier.

»Ich möchte wissen, wohin er geht«, murmelte Singh neben ihm.

Mike drehte den Kopf und sah den Inder an. Singh hatte sich auf einen Ellbogen aufgerichtet und machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Du traust ihm nicht?«, fragte Mike.

Singh deutete ein Achselzucken an. »Ich glaube, ich traue niemandem mehr«, sagte er geradeheraus. »Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich das wieder lerne. Es ist nur ... ich weiß, wo die NAUTILUS liegt. Man braucht keine halbe Stunde. Hin und zurück.«

Mike überlegte angestrengt. Er konnte sich absolut keinen Grund vorstellen, aus dem Sarn sie hintergehen sollte.

Immerhin hatte er sein Leben und das seiner Leute riskiert, um

ihn und seine Freunde zu befreien. Warum also sollte er sie belügen? Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Als er erwachte, war Sarn zurück. Mike hatte das Gefühl, so gut wie gar nicht geschlafen zu haben, schien sogar noch müder als zuvor, aber er wurde schlagartig wach, als er Sarn sah, der neben zweien seiner Leute hockte und sich leise mit ihnen unterhielt. Er konnte nicht verstehen, worum es ging, aber Sarns besorgter Gesichtsausdruck sagte genug. Mike wandte den Kopf. Ben, Chris und Juan hatten sich direkt neben ihm zusammengekuschelt und schliefen den tiefen Schlaf der Erschöpfung, aber Singh war bereits wach und sah aufmerksam zu Sarn hinüber.

»Was ist geschehen?«, fragte Mike.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Singh. »Aber irgendetwas scheint nicht zu stimmen.«

Als hätte er ihre Blicke gespürt, sah Sarn in diesem Moment hoch, unterbrach das Gespräch mit seinen Männern und kam zu ihnen herüber. »Weckt eure Freunde«, sagte er. »Wir müssen los.«

»Wieso hast du es plötzlich so eilig?«, fragte Singh misstrauisch.

»Ich habe mit einem der Wachtposten gesprochen«, antwortete Sarn. »Ich kann dem Mann vertrauen. Er hat beunruhigende Neuigkeiten.«

»Welche?«, fragte Singh. Sein Argwohn war jetzt nicht mehr zu überhören.

»Ich weiß auch nichts Genaues«, antwortete Sarn. »Aber seit gestern lässt Argos Lebensmittel und andere Vorräte an Bord eures Schiffes schaffen. Es sieht so aus, als ob sie Lemura verlassen wollen. Mein Vertrauensmann sagt, es wären Vorräte für mindestens zweihundert Passagiere.«

»Zweihundert?«, ächzte Singh. »So viele kann die NAUTILUS niemals aufnehmen!«

»Wenn sie ein bisschen zusammenrücken, schon«, widersprach Mike. »Es wird eng, aber für eine kurze Zeit wäre es möglich.«

»Und es entspricht genau der Anzahl der Edelleute und Privilegierten«, fügte Sarn finster hinzu. »Mein Vertrauensmann sagt, dass die NAUTILUS noch heute auslauten wird. Vielleicht schon in wenigen Stunden.«

»Dann haben wir wirklich keine Zeit zu verlieren«, sagte Singh. Mike starrte ihn fassungslos an. »Wie ... meinst du das?«

Nun war es Singh, der ihn verständnislos anblickte. »Was soll diese Frage? Wir müssen versuchen, an die NAUTILUS zu kommen und damit zu verschwinden. Oder möchtest du vielleicht zur Meeresoberfläche hinaufschwimmen?«

»Und du bist nicht der Meinung, dass wir jemanden vergessen haben?«, fragte Mike. Er verstand Singhs Verhalten immer weniger.

»Wen?«, fragte Sarn.

»Serena«, antwortete Mike. »Ihr habt erzählt, dass sie irgendwo im Palast gefangen gehalten wird. Ich werde Lemura nicht ohne sie verlassen. Und Ben, Chris und Juan auch nicht.«

»Deine Freunde wissen nicht einmal mehr, wer sie ist«, sagte Sarn.

»Aber sie würden sich ganz genau so entscheiden wie ich, wenn sie sich erinnern würden«, beharrte Mike. »Ich diskutiere nicht darüber. Ohne Serena rühre ich mich nicht von der Stelle.«

Sarn wollte widersprechen, aber Singh brachte ihn mit einer schnellen Bewegung zum Schweigen. »Mike hat vollkommen Recht«, sagte er. »Ich hätte selbst daran denken müssen. Es tut mir Leid. Wir müssen Serena finden.«

»Ihr kommt nicht einmal in den Palast hinein«, sagte Sarn überzeugt. »Ich verstehe euch, aber es ist sinnlos, glaubt mir. Wenn Argos euch jetzt gefangen nimmt, dann war alles umsonst.«