Mike spürte, wie auch seine Hände vor Aufregung zu zittern begannen. Der Mann neben ihm schien das wohl zu spüren, denn er warf ihm einen warnenden Blick zu. Mike nickte. Der Mann hatte Recht. Sie durften jetzt keinen Fehler machen. Die NAUTILUS lag scheinbar zum Greifen nahe vor ihm, aber in der Halle befanden sich nicht nur Arbeiter und Sklaven, sondern auch eine große Anzahl Wachen. Er musste sich beherrschen, um nicht im letzten Moment noch alles zunichte zu machen.
Ihr Führer deutete auf den Kistenstapel, dann auf die doppelte Reihe von Sklaven, die sich zur NAUTILUS hin-und wieder zurückbewegten, dann auf das Schiff selbst. Mike nickte wortlos. Wenn es ihnen gelang, sich unbemerkt in die Kette einzureihen, hatten sie eine gute Chance an Bord des Schiffes zu kommen.
Sie warteten einen günstigen Augenblick ab, dann huschten sie aus ihrem Versteck hervor und traten in die Reihe der Männer, die sich dem Kistenstapel mit leeren Händen näherten. Mikes Herz klopfte bis zum Hals. Es erschien ihm unglaublich, dass die Wachen nichts von diesem Manöver bemerkt haben sollten. Er glaubte ihre misstrauischen Blicke fast körperlich zu spüren. Doch selbst als er unmittelbar an einem der Krieger vorbeiging, starrte ihn dieser nur kalt an. Das Glück schien ihnen ausnahmsweise einmal hold zu sein.
Mike ergriff wahllos einen Sack, der viel schwerer aussah, als er war, warf ihn sich über die Schulter und trat in die Reihe, die sich umgekehrt der NAUTILUS näherte.
Mike fielen einige Veränderungen auf, als er das Tauchboot genauer in Augenschein nahm. Etliche Rumpfplatten schimmerten neu und hier und da entdeckte er einen Aufbau oder Mechanismus, der ihm unbekannt war. Singh hatte ihm ja erzählt, dass Argos’ Techniker gewisse Experimente mit der NAUTILUS vorgenommen hatten. Das Schiff war vor zehntausend Jahren gebaut worden, doch die Atlanter hatten offensichtlich ihre hoch entwickelte Technik ihren Nachkommen weitergegeben.
Aber Singh hatte auch noch mehr erzählt. In der ganzen Aufregung der letzten Tage hatte Mike der Bemerkung kaum Bedeutung zugemessen, aber nun erinnerte er sich jäh wieder daran, dass Singh auch gesagt hatte, Argos wäre drauf und dran die NAUTILUS mit seinen Experimenten zu zerstören. Wie hatte er das wohl gemeint?
Mike unterzog das Schiff einer zweiten, noch kritischeren Musterung, während sie langsam über den langen, gemauerten Steg gingen. Etliche der neuen Panzerplatten glänzten dort, wo sie vor Monaten selbst versucht hatten, die Schäden zu beheben, die das Schiff an seiner Havarie davongetragen hatte. Aber längst nicht nur dort. Eines der großen Bullaugen war sichtlich neu und ein fast hausgroßes Stück der Bugpanzerung schien ebenfalls ausgetauscht worden zu sein. Wenn all diese Spuren von ausgebesserten Beschädigungen stammten, so musste die NAUTILUS tatsächlich arg gebeutelt worden sein. Was um alles in der Welt hatte Argos dem Schiff angetan?
Sie erreichten das Ende des Steges und bewegten sich über eine schmale, zitternde Planke auf das Schiff hinauf. Der Zug der Sklaven betrat die NAUTILUS nicht über die Turmluke, sondern durch den Einstieg weiter hinten im Heck, was Sinn machte – dort lagen die großen Lagerräume. Mike wurde immer nervöser, und als er schließlich an der Reihe war, die metallene Wendeltreppe hinabzusteigen, konnte er sich vor Aufregung kaum noch beherrschen.
Im Inneren des Schiffes erwartete ihn die nächste Überraschung. Das Licht war wesentlich heller und angenehmer, als er es in Erinnerung hatte, und von den katastrophalen Schäden, die das eingedrungene Wasser überall angerichtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Im Gegenteiclass="underline" Alles blitzte und schimmerte, als käme das Schiff gerade von der Werft. Argos’ Ingenieure hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.
Der Sack auf seiner Schulter begann zu verrutschen. Mike griff hastig zu und schob ihn wieder in eine sichere Position. Dabei handelte er sich einen zornigen Blick eines der Krieger ein, die auch hier überall standen und die Sklaven beaufsichtigten. Mike sah hastig zu Boden, ging an dem Mann vorbei und wagte es erst wieder aufzublicken, als er hinter der nächsten Ecke angekommen war. Er war ziemlich besorgt. In der NAUTILUS wimmelte es regelrecht von Argos’ Soldaten, Das war etwas, wovon Sarn nichts erzählt hatte. Wenn sie die NAUTILUS kapern wollten, würden sie kämpfen müssen.
Die Reihe der Sklaven näherte sich dem Laderaum und Mike sah sich verstohlen um. Rechts von ihnen befand sich eine Tür, die in eine kleinere, leer stehende Kammer führte. Zwar gab es auch vor ihnen einen weiteren Wächter, aber der Mann schien voll und ganz damit beschäftigt, den Sklaven dabei zuzusehen, wie sie ihre Waren im Inneren des Laderaums verstauten. Wenn er sich herumdrehte und zufällig in ihre Richtung sah, dann war alles verloren. Aber ein gewisses Risiko musste er nun einmal in Kauf nehmen.
Ohne den Wächter auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, näherte er sich der Tür, nahm all seinen Mut zusammen und trat hindurch. Blitzschnell ließ er seine Last fallen, fuhr herum und zerrte Ben, der unmittelbar hinter ihm in der Reihe gegangen war, zu sich herein, danach Chris und als Letzten Juan. Sarns Männer folgten ihm unaufgefordert. Und das Unglaubliche geschah: Obwohl in der Reihe der Männer, die schwer beladen den Laderaum betraten, auf diese Weise eine deutliche Lücke entstand, sah der Krieger nicht einmal hoch. Offensichtlich nahm er seine Aufsicht nicht allzu ernst, sondern döste mit offenen Augen vor sich hin.
In der kleinen Kammer wurde es fast unerträglich eng, als sich die Männer, noch dazu mit Kisten und Säcken, hineindrängten. Mike warf noch einen letzten sichernden Blick zum Laderaum hinüber, stellte fest, dass der Krieger noch immer
damit beschäftigt war, Löcher in die Luft zu starren, und schloss
lautlos die Tür.
»Die erste Etappe hätten wir geschafft«, flüsterte er erleichtert.
Ben legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an. »Herr?«
»Vergiss endlich den Herrn«, antwortete Mike automatisch, was aber nur dazu führte, dass Ben noch verwirrter dreinsah. Plötzlich grinste Mike und fügte hinzu: »Oder nein: Eigentlich klingt das ganz gut. Ich bin dafür, dass du diese Anrede als Einziger beibehältst. Auch später, wenn wir hier heraus sind.«
Natürlich verstand Ben nicht, wovon er überhaupt sprach. Und Mikes Grinsen erlosch genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Der Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit auf Bens Gesicht brachte Mike nämlich auf einen neuen, nicht besonders angenehmen Gedanken:
Was, wenn auch Trautman sein Gedächtnis verloren hatte? Mike wusste nicht, ob Singh und er ganz allein in der Lage sein würden, die NAUTILUS zu steuern – zumal Argos’ Techniker in den vergangenen Wochen ja eifrig an dem Schiff herumgebastelt und eine unbekannte Anzahl von Veränderungen daran vorgenommen hatten.
Nachdenklich sah er Sarns Vertrauensmann an, dann fragte er: »Kann ich euch eine Weile allein lassen?«
Der Mann nickte, fragte aber zugleich: »Wo willst du hin?«
Mike machte eine vage Handbewegung zur Decke hinauf. »Es ist jemand an Bord, mit dem ich reden muss. Es ist wichtig.«
»Sie werden dich fangen«, sagte der Mann. »Argos’ Krieger sind sehr misstrauisch. Du solltest sie nicht unterschätzen. Es ist ein kleines Wunder, dass wir bis hierher gekommen sind.«
»Ich weiß«, seufzte Mike. »Aber dann bleibt mir wohl nichts
anderes übrig als auf ein weiteres Wunder zu vertrauen.«
Er bekam es und mehr als nur eines. Nachdem er einen günstigen Augenblick abgewartet hatte, schlüpfte er unbemerkt aus der Kammer und reihte sich wieder in die Schlange ein, die sich ihrer Last entledigt hatte und zurück zur Treppe ging. Mike hatte noch keine Ahnung, wie er dem Wächter dort entgehen sollte, und er vertraute einfach auf seine Intuition und Glück, aber beides erwies sich als nicht notwendig. Als er sich der Treppe näherte, begann der Boden unter seinen Füßen zu zittern, und plötzlich bäumte sich das große Schiff wie unter einem Hammerschlag auf, legte sich auf die linke Seite und dann ruckartig auf die andere. Mike wurde wie alle anderen von den Füßen gerissen, prallte unsanft gegen die Wand und hörte einen Chor gellender Schreie. Einige Männer stürzten kopfüber die Treppe hinunter, andere hatten mehr Glück und konnten sich im letzten Moment am Geländer festklammern und auch hier unten herrschte für Momente das reine Chaos. Offensichtlich wurde Lemura von einem weiteren Seebeben geschüttelt, das auch die NAUTILUS kräftig durchrüttelte. Fast jeder Mann war zu Boden geschleudert worden und der Wächter war gar nicht mehr zu sehen und unter einem Berg von übereinander gestürzten Körpern verschwunden.