Plötzlich räusperte sich Trautman, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen. Mike sah genauer auf den Bildschirm, aber es vergingen noch einmal Sekunden, ehe auch ihm auffiel, was Trautman bemerkt hatte: Der Zug der Sklaven hielt an und er hatte sich verändert. Bisher waren es vornehmlich Männer gewesen, die Kisten und Säcke aus dem Lagerhaus brachten, allenfalls ein paar Jungen in seinem und Bens Alter. Nun aber entdeckte er unter ihnen auch Frauen, junge Mädchen, ja, sogar ein paar Kinder, die kaum in der Lage schienen, die Lasten zu tragen, die man ihnen aufgeladen hatte.
»Was ist da los?«, murmelte Trautman.
Mike wusste die Antwort auf die Frage nicht – und dann, endlich, sah er auf dem Schirm, wonach er so lange vergeblich Ausschau gehalten hatte: Tief nach vorne gebeugt unter großen, prall gefüllten Säcken bewegten sich auch Sarn, Singh und eine schlanke Mädchengestalt mit hüftlangem, goldfarbenem Haar auf die NAUTILUS zu.
Serena!
Mike konnte im letzten Moment einen Aufschrei un
terdrücken. Serena? Seit annähernd drei Monaten hatte er sie nicht mehr gesehen, aber ihm wurde erst jetzt klar, wie sehr er sie wirklich vermisst hatte. Sein Herz begann zu klopfen. Er beugte sich weiter vor, um Serenas Gesicht genauer zu erkennen, aber er konnte einfach nicht sagen, ob die Leere in ihrem Blick nur geschauspielert oder echt war.
»Beherrsch dich«, flüsterte Trautman. »Wenn die Wachen sie sehen, ist es aus!«
Damit hatte er natürlich Recht. Mike riss seinen Blick mühsam vom Bildschirm los, beugte sich über das Kontrollpult und tat so, als wäre er damit beschäftigt, die Anzeigen darauf zu überwachen. Aber es kostete ihn all seine Kraft, nicht ununterbrochen wieder auf den Bildschirm zu blicken.
Wenn er gedacht hatte, dass sich die Zeit bisher im Schneckentempo bewegte, so schien sie nun stehen zu bleiben. Minuten vergingen, quälend langsam und scheinbar endlos, und irgendwann hielt es Mike einfach nicht mehr aus und blickte doch auf den Bildschirm. Singh, Serena und Sarn waren nicht mehr darauf zu sehen. Sie mussten die NAUTILUS mittlerweile erreicht haben.
Wieder zitterte das Schiff unter seinen Füßen. Auf dem Wasser des Hafenbeckens auf dem Bildschirm entstand ein kompliziertes Wellenmuster und verging wieder, und als hätten sie nur auf genau diese Ablenkung gewartet, betraten Singh und Sarn in genau diesem Augenblick den Salon.
Die beiden Krieger reagierten sofort auf das Erscheinen ihres abtrünnigen Kameraden und zogen ihre Schwerter. Aber Sarn war schneller: Mit einer blitzschnellen Bewegung forderte er eine kleine, sonderbar aussehende Waffe unter seinem Unihang hervor, richtete sie nacheinander auf die beiden Krieger und drückte ab. Ein doppeltes, leises Zischen erklang und die beiden Krieger stürzten wie vom Blitz getroffen zu Boden.
»Jetzt!«,schrie Singh mit vollem Stimmaufwand. Nur einen Augenblick später erklang draußen auf dem Gang ein gellender Schrei, gefolgt von den Geräuschen eines Kampfes, der rasch an Heftigkeit zunahm und sich über das gesamte Deck auszubreiten schien. Sarn fuhr wieder herum und war mit einem raschen Schritt aus der Tür. Mike hörte ihn draußen Befehle brüllen und Singh war mit einer raschen Bewegung neben den beiden Kriegern und kniete nieder.
Mike blickte auf den Bildschirm. Der Zug der Sklaven hatte wieder angehalten und er sah, dass an seinem Ende eine große Anzahl Krieger aufgetaucht war, die mit wehenden Mänteln über den Steg rannten. Sie würden zu spät kommen. Noch während die Sklaven hastig beiseite wichen, um den Soldaten Platz zu machen, wurde die Luke im Heck der NAUTILUS geschlossen. Gleich darauf dröhnte ein doppelter, lang nachhallender Schlag durch das Schiff. Mike kannte dieses Geräusch: Der Lukendeckel hatte sich geschlossen und verriegelt.
»Trautman!«, rief Singh. »Starten Sie die Motoren! Schnell! Wir haben nicht viel Zeit!« Trautman begann hastig an seinen Kontrollinstrumenten zu hantieren und das Motorengeräusch änderte
sich. Gleichzeitig zitterte der Boden unter Mikes Füßen stärker, jetzt aber im Rhythmus der Motoren, die allmählich ihre Kraft aufbauten, um das Tauchboot ins freie Meer hinauszukatapultieren. »Wo ist Serena?«, fragte Mike. »Und Astaroth!?« »Oben im Turm«, antwortete Singh. »Wir haben sie zurückgelassen, damit ihnen nichts passiert. Sie
könnten verletzt werden. Argos’ Krieger sind nicht zu unterschätzen. Aber wir werden es schaffen, keine
Angst. Wie lange noch?« Die letzte Frage galt Trautman, der sie mit einem Achselzucken beantwortete. »Ein paar Minuten, aber genau weiß ich es nicht. Diese neuen Maschinen sind viel stärker als unsere alten, aber sie brauchen ein paar Minuten, um warm zu laufen.«
Draußen auf dem Gang schien der Kampf mittlerweile zu Ende zu sein, doch nun hörte Mike von überall her aus dem Schiff Schreie und Kampfgetöse. Offenbar tobte in der gesamten NAUTILUS ein erbitterter Kampf.
Sarn kam zurück. Er blutete aus einer kleinen Schnittwunde am Arm, lächelte aber zufrieden. In der rechten Hand trug er noch immer die sonderbare Waffe, mit der er die beiden Krieger niedergestreckt hatte. Als er Mikes Blick bemerkte, machte er eine beruhigende Geste mit der freien Hand.
»Keine Sorge«, sagte er. »Sie tötet nicht, sondern betäubt nur.« »Woher stammt diese Waffe?«, fragte Mike. »Ausgeliehen, aus Argos’ persönlicher Waffenkammer«, grinste Sarn. »Ich fürchte nur, er weiß nichts
davon.« Er wandte sich an Trautman. »Wann ist es so weit?« »Zwei Minuten«, sagte Trautman. Dann fragte er: »Wer sind Sie?« »Der Freund, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte Mike rasch. »Sarn. Ohne ihn hätten wir das alles
nicht geschafft.«
»Sarn, so ...« Trautman machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sie kommen mir bekannt vor. Haben wir uns schon einmal gesehen?« »Das ist gut möglich«, antwortete Sarn. »Ich habe zu Argos’ Leibwache gehört.« »Und jetzt haben Sie einfach die Seiten gewechselt?«, fragte Trautman misstrauisch. »Das spielt jetzt wirklich keine Rolle«, mischte sich Singh ein. »Verschwinden wir von hier. Schnell!« Trautman musterte ihn und Sarn noch einmal kurz mit finsteren Blicken, dann zuckte er mit den
Schultern und widmete sich wieder seinen Kontrollinstrumenten. Die NAUTILUS zitterte stärker und das Grollen der Maschinen nahm an Lautstärke zu. Auf dem Bildschirm konnte Mike sehen, wie sich das Schiff scheinbar träge vom Steg entfernte und dabei langsam tiefer ins Wasser sank. Draußen, vor dem großen Fenster, durch das man aus dem Salon direkt ins Meer blicken konnte, begann das Wasser zu sprudeln. »Was sind das für Leute, die ihr mitgebracht habt?«, fragte Trautman.
»Sie gehören zu mir«, antwortete Sarn. »Ein paar Männer mit ihren Familien, die ich in der Kürze der Zeit erreichen konnte. Es war Singhs Vorschlag.«
Mike sah den Inder überrascht an und Singh zuckte fast verlegen mit den Schultern. »Die NAUTILUS war ohnehin darauf vorbereitet, Passagiere aufzunehmen«, sagte er im Tonfall der Verteidigung. »Auf diese Weise können wir wenigstens einige retten.«
Mike war noch immer erstaunt. Natürlich hatte Singh vollkommen richtig gehandelt. Er fragte sich sogar, warum er nicht selbst auf diese an sich nahe liegende Idee gekommen war. Aber dass sie nach allem, was er erlebt hatte, ausgerechnet von Singh kam, überraschte ihn doch. Gleichzeitig erleichterte es ihn aber auch. Anscheinend hatte Argos’ Einfluss Singh doch nicht ganz so sehr verändert, wie er bisher befürchtet hatte.
»Wir tauchen«, sagte Trautman. »Singh, ich brauche deine Hilfe.«
»Was ist mit Serena?«, fragte Mike. »Ich möchte sie sehen!«
»Ich lasse deine Freundin holen und das Felltier auch. Keine Sorge.« Sarn lächelte aufmunternd, machte einen halben Schritt aus dem Salon und wechselte ein paar Worte mit jemandem, der draußen auf dem Gang stand. Währenddessen trat Singh neben Trautman und begann mit geschickten Bewegungen am Kontrollpult zu hantieren. Mike war ein bisschen überrascht, als er feststellte, dass Singh auch die neu hinzugekommenen Geräte so selbstverständlich bediente, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan.