»Was genau ist das?« Mike deutete auf das Pult, hinter dem Singh stand.
»Der Gefechtsstand«, antwortete der Inder.
»Gefechtsstand?«,ächtzte Mike.
Trautman nickte düster. »Talas und seine Ingenieure waren fleißig«, sagte er. »Die NAUTILUS ist jetzt bis an die Zähne bewaffnet.«
»Aber sie ist doch kein Kriegsschiff«, protestierte Mike.
»Jetzt schon«, antwortete Singh lakonisch. »Es gefällt mir genauso wenig wie dir – aber wir werden die Waffen brauchen. Da sind sie!«
Es dauerte eine Sekunde, bis Mike begriff, was Singh mit seinen letzten Worten meinte. Auf dem kleinen Bildschirm war jetzt das Meer vor dem Bug der NAUTILUS zu erkennen. Inmitten des grünen, schäumenden Wassers waren drei schlanke, pfeilförmige Umrisse erschienen. Im allerersten Moment dachte Mike, es handle sich um bizarre Tiefseeungeheuer, dann erkannte er, dass es künstliche Gebilde waren.
»Was ist das?«, fragte er verblüfft.
»Jäger«, antwortete Trautman. »Argos’ Privatflotte. Sie sind klein, aber ziemlich gefährlich.«
Mike war vollkommen fassungslos. Alles, was er bisher von Lemura gesehen hatte, hatte ihn den Eindruck gewinnen lassen, sich in einer fast steinzeitlichen Welt zu befinden. Und nun erblickte er drei Miniatur-Tauchboote, deren Technik sich durchaus mit der der NAUTILUS messen konnte! Sein Zorn auf Argos stieg ins Unermessliche. Wie viele Menschen hatten sich wohl zu Tode gearbeitet, damit Argos’ Ingenieure diese drei – wie hatte Singh sie genannt – Jäger bauen konnten?
»Achtung!«, schrie Trautman. »Sie schießen!«
Mike sah weder einen Torpedo noch die Spuren irgendeiner anderen Waffe, doch schon im nächsten Augenblick dröhnte die NAUTILUS unter einem gewaltigen Schlag und legte sich spürbar auf die Seite. Aus der Tiefe des Schiffes hallte ein Chor gellender Schreie an ihre Ohren. Die NAUTILUS richtete sich schwerfällig wieder auf und Singh schlug mit der Faust auf einen Schalter. Einer der Jäger schien plötzlich von einem gewaltigen Faustschlag getroffen zu werden und zerbarst in tausend Stücke. Die beiden anderen Jagd-U-Boote wechselten blitzschnell ihren Kurs. Singhs nächster Schuss ging fehl. Die Jäger waren unheimlich schnell und so wendig wie Fische.
»Ich begreife nicht, warum sie die NAUTILUS stehlen mussten, wenn sie in der Lage sind, solche Schiffe zu bauen«, murmelte Mike.
Singh warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, antwortete aber nicht. Eine Sekunde später dröhnte die NAUTILUS unter einem weiteren Einschlag der unbekannten Waffe. Trautman fluchte und versuchte hektisch, das Schlingern des Schiffes zu stabilisieren. Singh schoss erneut und verfehlte sein Ziel auch diesmal.
»Sie sind zu schnell für uns!«
»Können sie die NAUTILUS beschädigen?«, fragte Mike angstvoll.
»Nicht wirklich«, antwortete Trautman ohne ihn anzusehen. »Gottlob haben Argos’ Ingenieure das Schiff ausgezeichnet gepanzert. Aber sie können uns aufhalten und das ist schlimm genug.«
»Wieso?«
»Weil Argos noch ein paar andere Überraschungen auf Lager hat«, knurrte Singh.»Festhalten!«
Das letzte Wort hatte er geschrien. Die NAUTILUS erbebte unter gleich zwei Treffern und legte sich so stark auf die Seite, dass Mike sich hastig irgendwo festklammerte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Trautman fluchte erneut, betätigte hastig einen Schalter und die Irisblende vor dem großen Fenster begann sich zu schließen. Panzerung oder nicht, dachte Mike, wenn eines der unsichtbaren Geschosse das Fenster trifft und zerschmettert, ist es um uns geschehen.
Als sich das Zittern des Bodens beruhigte, kam Sarn zurück. Er war nicht allein. Serena betrat dicht hinter ihm den Salon und zwischen ihren Füßen lief ein schwarzes, struppiges Fellbündel, das Mike aus einem einzelnen gelb glühenden Auge anblinzelte.
Das ist wieder einmal typisch!erklang Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Kaum lasse ich euch eineStunde allein, steckt ihr bis über beide Ohren in Schwierigkeiten!
Mike ignorierte den Kater, war mit einem Satz bei Serena und schloss sie in die Arme. »Serena!«, rief er überglücklich. »Gott sei Dank, Serena! Du bist gesund und ...«
Er sprach nicht weiter. Serena erwiderte seine Umarmung nicht, sondern versteifte sich regelrecht. Mit klopfendem Herzen trat er einen halben Schritt zurück und sah dem Mädchen ins Gesicht.
In seinem Hals war plötzlich ein bitterer Kloß. Für ein paar Sekunden musste er mit aller Kraft gegen die Tränen ankämpfen. Er hatte geahnt, ja, im Grunde sogar gewusst, was ihn erwartete, und trotzdem brach ihm der Anblick fast das Herz. Serenas Augen waren leer. Ihr Bewusstsein war so ausgelöscht wie das Bens und der anderen. So wie es sein eigenes gewesen war, bevor Astaroth ihn geheilt hatte.
»Serena!«, sagte er. »Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es! Mike!«
Serena sah ihn nur fragend an. Einen Moment lang schien so etwas wie Erkennen in ihren Augen aufzublitzen, doch dann gestand sich Mike ein, dass er nur etwas in ihrem Blick sah, was er sehenwollte;nicht, was wirklich darin war.
Gib dir keine Mühe,sagte Astaroth.Sie weiß nicht, wer du bist. Sie hat nicht einmal mich erkannt. Bei ihr war Argos ganz besonders gründlich.
»Aber warum?«, fragte Mike.Weil er Angst vor ihr hat,antwortete Astaroth. »Angst?«Ihre geistigen Kräfte sind ebenso groß wie seine eigenen, hast du das schon vergessen? fragteAstaroth.
Sie kann ihre Magie nicht mehr ausüben, aber die Kraft ist noch da. Argos hat wohl gehofft, sie späterfür sich selbst nutzen zu können.
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Mike.Ich glaube schon,antwortete Astaroth,aber nicht jetzt. Sie braucht Zeit. Und Ruhe.Wie um seine Worte zu unterstreichen, erbebte die NAUTILUS unter einem weiteren Treffer. Mike hob
rasch den Blick zum Bildschirm und sah, dass sie mittlerweile dicht über den Grund des unterseeischen
Hafenbeckens dahinglitten. Singh feuerte mit den neuen Waffen der NAUTILUS zurück. Er verfehlte die Jäger auch diesmal, aber der Meeresboden neben einem der beiden pfeilförmigen Schiffe explodierte wie unter dem Einschlag einer Bombe.
»Da ist die Ausfahrt«, sagte Trautman. »Verdammt! Sie schließen die Tore!« Inmitten des sprudelnden grünen Wassers sah Mike den Rand der gewaltigen Unterseekuppel. Genau vor
dem Bug der NAUTILUS befand sich ein riesiges, sechseckiges Tor, groß genug, um fünf Schiffe von den Abmessungen der NAUTILUS passieren zu lassen. Aber Mike sah auch die gewaltigen Torflügel, die sich schnell davor schoben. Sie würden es nicht schaffen.
Trautman hatte Recht: Die Jäger konnten die NAUTILUS möglicherweise nicht wirklich beschädigen, aber ihr hartnäckiger Beschuss verlangsamte das Schiff, und das war alles, was nötig war. Wenn sie die Tore schlossen, dann war die NAUTILUS unwiderruflich in der Unterseekuppel gefangen.
»Das schaffen wir nicht«, sagte Trautman.
»O doch«, antwortete Singh grimmig. »Haltet euch fest!«
Auf Trautmans Gesicht erschien ein bestürzter, ja, beinahe entsetzter Ausdruck, und noch bevor Mike wirklich begriff, was das bedeuten mochte, hämmerte Singhs geballte Faust auf das Kontrollpult. Mike starrte fassungslos auf den Bildschirm und sah, wie sich zwei schlanke Schatten vom Bug der NAUTILUS lösten und auf das Unterwassertor zurasten.