»Singh!«,brüllte Trautman.»Bist du wahnsinnig geworden?«
Singhs Antwort ging im Krachen einer ungeheuren Explosion unter. Ein grellweißer Blitz löschte für einen Moment das Bild auf dem Monitor aus, und noch bevor die tanzenden Funken vor Mikes Augen verschwanden, schien die NAUTILUS vom Fußtritt eines Riesen getroffen und wie ein Spielzeug davongewirbelt zu werden. Diesmal blieb niemand im Salon auf den Füßen.
Mike blieb einige Sekunden benommen liegen und wartete, dass das Schiff und der Rest der Welt aufhörten, sich um ihn zu drehen. Die NAUTILUS schaukelte noch immer wild hin und her. Der Boden kippte von links nach rechts und wieder zurück und aus dem bisher gleichmäßigen Brummen der Motoren war ein unregelmäßiges, mühsames Stampfen und Schnauben geworden.
Langsam richtete sich Mike auf. Sein Kopf dröhnte und er hatte sich eine Rippe angeschlagen, die entsetzlich wehtat. Trotzdem galt sein erster Blick Serena.
Die Atlanterin richtete sich neben ihm auf; benommen, aber offensichtlich unverletzt. Neben ihr versuchte ein zerrupftes schwarzes Fellbündel auf die Pfoten zu kommen und in Mikes Gedanken erklang ein wahrer Schwall der unflätigsten Flüche, die Mike je gehört hatte. Er ignorierte sie und stand auf.
Auf der anderen Seite des Kontrollpultes zogen sich Singh und Trautman in die Höhe. Trautmans Gesicht war blutig, aber er sah viel mehr wütend als verletzt aus.
Mike blickte auf den Bildschirm. In den riesigen Torflügeln gähnte jetzt ein gewaltiges, gezacktes Loch. Von den beiden Jagd-U-Booten war keine Spur mehr zu sehen. Die Explosion der beiden Torpedos hatte sie entweder zerstört oder so weit davongewirbelt, dass sie im Moment keine Gefahr mehr darstellten.
Mike begriff erst nach und nach, was das, was Singh getan hatte,wirklichbedeutete. Ungläubig starrte er den Inder an. »Warum ... warum hast du das ... getan?«, stammelte er.
»Weil wir sonst gefangen gewesen wären«, antwortete Singh. »Würdest du gerne den Rest deines Lebens hier unten verbringen?«
»Das ist Wahnsinn!«, keuchte Mike. »Die ganze Kuppel hätte
zusammenstürzen können! Hier unten leben fast
zwanzigtausend Menschen, Singh!«
»Und?«, fragte der Inder kalt. »Sie sterben doch sowieso in ein paar Tagen.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte Mike nicht härter treffen können. Er wollte irgendetwas sagen, aber er konnte es nicht. Der Mann, der vor ihm stand, schien nichts, aber auch rein gar nichts mehr mit dem Singh gemein zu haben, den er bisher gekannt hatte.
Jetzt spinnt er total,maulte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Ich glaube, um ihn muss ich mich wohl zuerst kümmern. Argos hat sein Gehirn noch mehr verdreht als das der anderen.
Nicht jetzt,antwortete Mike auf dieselbe, lautlose Art.Bitte geh nach unten und kümmere dich um Ben und die anderen. Sie sind in dem kleinen Raum neben dem Lager.
Astaroth fügte noch ein paar wenig schmeichelhafte Bemerkungen über Singhs Geisteszustand hinzu, stand dann aber gelassen auf und trollte sich. Mike hatte ihn nicht nur fortgeschickt, weil er sich um Ben und die anderen sorgte, die in der winzigen Kammer eingesperrt waren. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass er Ben und die beiden anderen vielleichtbrauchte.Niemand konnte sagen, für welcheunangenehme Überraschung Singh noch gut war. Was um alles in der Welt hatte Argos Singh nur angetan?
Während Mike mit Astaroth geredet hatte, war es Trautman gelungen, die Kontrolle über die NAUTILUS zurückzuerlangen und das Schiff zu stabilisieren. Das Motorengeräusch klang nun wieder gleichmäßig. Langsam, aber allmählich wieder schneller werdend, bewegte sich die NAUTILUS auf die gewaltsamgeschaffene Öffnung zu und glitt hindurch.
Mike hielt den Atem an, als sie die gewaltige Unterseekuppel verließen. Mit einem Mal umgab sie vollkommene Schwärze. Die NAUTILUS befand sich jetzt im offenen Meer und auf ihrem Rumpf lastete der Druck von mehr als fünftausend Metern Wasser; eine Belastung, die das Schiff normalerweise kaum lange ausgehalten hätte. Doch nichts von alledem, was Mike erwartete, geschah. Das gequälte Stöhnen des Rumpfes blieb ebenso aus wie das Krachen überlasteter Nieten und das Knistern von Metall, das die Grenzen seiner Tragfähigkeit erreicht hatte. Wie Trautman es gesagt hatte, konnte die NAUTILUS jetzt viel tiefer tauchen als zuvor. Argos’ Ingenieure hatten ein wahres Wunder vollbracht.
Mike sah in Trautmans und Singhs Gesicht und ein einziger Blick reichte aus, um ihm klarzumachen, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Beide starrten konzentriert auf den Bildschirm und auch Sarn wirkte plötzlich angespannt, beinahe ängstlich. Bevor Mike eine entsprechende Frage stellen konnte, schaltete Trautman die großen Scheinwerfer der NAUTILUS ein. Im Schein der turmdicken Lichtstrahlen erkannte Mike eine Anzahl kleiner, silbrig glänzender Umrisse, die sich zu schnell bewegten, um sie identifizieren zu können. Trotzdem erinnerten sie ihn an etwas. Und es war keine gute Erinnerung ...
»Sind das ... Haie?«, murmelte er. »IndieserTiefe? Aber das ist doch unmöglich!«
»Es sind keine normalen Haie«, antwortete Trautman und Singh sagte:
»Du hast vorhin gefragt, wieso sie die NAUTILUS brauchen. Da hast du die Antwort.«
Mike sah noch einmal hin und sein Atem stockte, als ihm klar wurde, was Singh mit seinen Worten meinte. Die silbrigen Umrisse, deren Zahl immer mehr und mehr zunahm, waren tatsächlich Haie; Tiere der unterschiedlichsten Gattung: Tigerhaie, Hammerhaie, die gefürchteten weißen Haie, aber auch Arten, wie Mike sie noch niemals erblickt hatte. Alle Tiere waren groß, aber es waren auch wahre Giganten unter ihnen, zwanzig Meter lange Walhaie und andere, noch viel größere Kolosse.
Es war nicht das erste Mal, dass Mike diese unterirdische Haifisch-Armee sah. Schon als die NAUTILUS die Stadt auf dem Meeresgrund erreicht hatte, war sie von zahllosen Haien der unterschiedlichsten Art flankiert worden. Diesmal aber waren es mehr, sehr viel mehr der gefährlichen Tiere. Und er sah nicht nur die unheimlichen Riesenhaie, von denen einige fast halb so lang wie die NAUTILUS zu sein schienen, sondern zwischen ihnen auch kleinere, bizarre Geschöpfe, die wie eine grauenhafte Mischung aus Mensch und Haifisch aussahen. Er war Wesen wie diesen schon mehrmals begegnet – an Bord der NAUTILUS, im Wrack des gesunkenen Frachters, aus dem sie Argos’ Kameraden geborgen hatten, und das letzte Mal am vergangenen Morgen, in den unterirdischen Erzgruben Lemuras.
»Sieh hin«, sagte Singh.
Nicht dass seine Aufforderung nötig gewesen wäre. Mike war viel zu gebannt von dem unheimlichen Anblick, als dass es ihm auch nur möglich gewesen wäre, den Blick vom Bildschirm zu lösen; selbst wenn er es gewollt hätte.
Die Anzahl der Haie wuchs immer weiter. Es mussten mittlerweile nicht mehr Hunderte sein, sondern Tausende. Die Raubfische umkreisten die NAUTILUS in dichten Schwärmen.
»Es scheint zu funktionieren«, murmelte Trautman gepresst.
»Was?«, fragte Mike.
Trautman deutete auf einen der gigantischen Walhaie. Mike schätzte die Länge des Tieres auf fünfunddreißig Meter, wenn nicht mehr. »Den Burschen da erkenne ich wieder«, sagte er. »Als wir das letzte Mal versucht haben, die Kuppel zu verlassen, haben er und ein paar seiner Brüder die NAUTILUS beinahe in Stücke gerissen.«