Aus Mikes Beunruhigung wurde allmählich nackte Angst. Er glaubte Trautman aufs Wort. Der Walhai war nicht annähernd so groß wie die NAUTILUS, aber Mike wusste, wie unvorstellbar stark diese Tiere waren. Einem Angriff gleich Dutzender dieser Kolosse würde nicht einmal die NAUTILUS standhalten.
Seltsamerweise griffen die Tiere jedoch nicht an. Es wurden immer noch mehr und sie kamen auch näher, hielten aber trotzdem einen gewissen Abstand zur NAUTILUS ein. Zwischen ihnen gewahrte er immer mehr der unheimlichen Haifischmenschen.
»Wächter«, murmelte er. »Chris nannte sieWächter.«
Singh nickte grimmig. »Ein letzter Gruß von Serenas Vater«, sagte er mit zornbebender Stimme. »Die alten Atlanter haben diese Ungeheuer erschaffen, um Lemura zu bewachen. Sie sind erbarmungslos. Schlimmer als Maschinen.«
»Deshalb sind sie immer in unserer Nähe aufgetaucht, seit wir Argos begegnet sind«, murmelte Mike. »Sie waren hinter ihm her, gar nicht hinter uns.«
»Niemand kann ihnen entkommen«, bestätigte Singh. »Sie wurden dazu erschaffen, die Bewohner Lemuras zu bewachen und überall aufzuspüren, ganz egal, wohin sie auch fliehen.«
Auf dem kleinen Bildschirm entstand plötzlich hektische Bewegung. Die Hai-Armee teilte sich. Der größte Teil blieb bei der NAUTILUS zurück, aber Hunderte der Tiere bewegten sich auf das gewaltige Loch in der Unterseekuppel zu, durch das die NAUTILUS herausgekommen war. Eine Sekunde später erkannte Mike auch den Grund dafür: Die beiden Jagd-U-Boote, die ihnen schon im Hafenbecken zu schaffen gemacht hatten, schossen wie große silberne Fische aus der Kuppel heraus und nahmen unverzüglich Kurs auf die NAUTILUS.
»Diese Narren!«, sagte Singh verächtlich. »Sie werden sich nur selbst umbringen!«
Als hätten sie nur auf diese Worte gewartet, stürzten sich Dutzende von Haien auf die Jäger. Die meisten Tiere verfehlten ihr Ziel, denn die winzigen Tauchboote bewegten sich mit geradezu unglaublicher Schnelligkeit, aber einige trafen eben doch. Die kleineren Haie wurden einfach zur Seite geschleudert, doch dann prallte einer der Walhaie gegen die vordere Maschine. Der Jäger wurde zurückgeschleudert und begann hilflos zu trudeln und damit war sein Schicksal besiegelt. Blitzartig stürzten sich Dutzende von Haien auf das winzige Tauchboot und das Wasser schien für einen Moment regelrecht zu kochen. Als es vorbei war, sanken mindestens ein Dutzend Haifische auf den Meeresboden, aber von dem Jäger war nur noch ein verbeultes, aufgerissenes Wrack übrig, aus dem eine Kette silberner Luftblasen aufstieg.
Der zweite Jäger überlebte seinen Kameraden nur um Sekunden. Der Steuermann musste die Ausweglosigkeit seiner Situation begriffen haben, denn er versuchte zu wenden und die Kuppelstadt wieder zu erreichen, aber die Haie ließen ihm keine Chance. Die grauen Wächter erfüllten ihre Aufgabe gnadenlos. Niemand, der in der Unterseekuppel geboren war, durfte sie verlassen, ohne mit dem Leben dafür zu bezahlen.
»Dummköpfe!«, sagte Singh verächtlich. »Sie hätten wissen müssen, was passiert. Geschieht ihnen Recht!« Mike nahm diese neuerliche Ungeheuerlichkeit kaum noch zur Kenntnis, aber er nahm sich fest vor, dass sich Astaroth zuerst umSinghkümmern würde, wenn alles vorbei war.
Falls sie dann noch lebten, hieß das.
Die überlebenden Haie kehrten zurück und schlossen sich der schwimmenden Armee an, die die NAUTILUS umkreiste. »Wieso ... greifen sie uns nicht an?«, murmelte Mike.
»Aus demselben Grund, aus dem sie die NAUTILUS verschont haben, als wir hergekommen sind«, antwortete Trautman. »Sie wurden dazu geschaffen, die Gefangenen in Lemura zu bewachen, aber sie können keinem Menschen ein Leid antun.« Er sah Singh an. Seine Augen leuchteten kurz und triumphierend auf. »Es funktioniert, Singh! Eure Gegenwart hier macht es ihnen unmöglich, die NAUTILUS anzugreifen!«
Eure Gegenwart?dachte Mike. Wieso benutzte Trautman diese
sonderbare Formulierung?
Bevor er den Gedanken weiter verfolgen konnte, erscholl ein helles, durchdringendes Scharren. Mike fuhr erschrocken zusammen und wirbelte herum. Das Scharren wiederholte sich und jetzt begriff er auch, woher es kam: Etwas kratzte an der Scheibe hinter der geschlossenen Irisblende.
»Was bedeutet das?«, flüsterte Trautman. Singh zuckte nur wortlos die Achseln und presste die Lippen zusammen. Mike sah auf dem Bildschirm, wie sich die Hai-Armee mehr und mehr der NAUTILUS näherte. Er konnte selbst nicht genau sagen, was, aber an den Bewegungen der Tiere war plötzlich etwas ungemein Bedrohliches. Dann begriff er, dass sie sich zum Angriff sammelten.
Auch Singh schien zu demselben Schluss gekommen zu sein, denn er streckte die Hände nach den Kontrollinstrumenten der Waffen aus.
»Um Gottes willen!«, keuchte Mike. »Nicht! Ein Schuss und wir sind tot!«
Singh zog die Hand so erschrocken zurück, als hätte er eine glühende Herdplatte berührt. Das Kratzen an der Scheibe wiederholte sich. Es klang fordernder, befehlender.
»Machen Sie die Blende auf«, sagte Mike. »Trautman! Schnell!«
Trautman sah ihn eine Sekunde lang fassungslos an, aber dann reagierte er und drückte einen Knopf auf dem Pult vor sich. Ein helles Summen erklang und die Irisblende vor dem Fenster schob sich auseinander und Mike starrte in einen wahren Albtraum von Gesicht.
Das Wesen hatte den Körperbau eines Menschen, zugleich aber
auch deutlich etwas von einem Fisch. Seine Haut war so grob und zäh wie die eines Haies und sein Gesicht war eine Grauen erregende Mischung aus dem eines Haies und etwas, was einmal menschlich gewesen war. Zwischen den Fingern seiner Hände spannten sich dünne, zähe Schwimmhäute.
Mike war zutiefst entsetzt, aber der Grund für dieses Entsetzen war nicht allein das Furcht einflößende Äußere der Kreatur. Noch viel mehr erschütterte ihn der Gedanke, dass die Vorfahren dieses Geschöpfes einmal Menschen gewesen waren. Argos und die anderen Herrscher von Lemura waren seiner Meinung nach Verbrecher, die etwas wirklich Schreckliches getan hatten – aber der, der diese Geschöpfe erschaffen hatte, musste ein wahres Monster gewesen sein. Einen Moment lang weigerte er sich einfach zu glauben, dass es Serenas Vater gewesen sein sollte.
»Was tut er da?«, flüsterte Singh.
Mike antwortete nicht gleich, sondern raffte all seinen Mut zusammen und trat dichter ans Fenster heran. Der Wächter bewegte sich zur Seite, um ihn genauer ansehen zu können. Mike schauderte, als er in seine riesigen, starren Haifischaugen blickte.
»Was tut er?«, fragte Singh noch einmal. Seine Stimme zitterte und schien kurz davor, einfach umzukippen.
»Ich glaube, sie sind sich nicht sicher«, sagte Mike. »Sie haben Recht, Trautman. Sie spüren unsere Anwesenheit. Aber sie fühlen auch die der Lemurer. Sie wissen nicht, was sie tun sollen.« Er überlegte einen Moment angestrengt, dann winkte er Serena herbei.
»Serena! Singh! Kommt her!«
Serena setzte sich gehorsam in Bewegung, wie er es erwartet hatte, aber Singh zögerte endlose Sekunden, ehe er hinter seinem Pult hervorkam und an Mikes Seite trat. Der Haifischmann bewegte sich unruhig. Sein Blick tastete über Mikes und Serenas Gesichter, taxierte einen Moment lang Singh und kehrte dann zu Mike zurück. Er konnte die Unsicherheit des Geschöpfes regelrecht spüren.
»Es genügt nicht«, murmelte Trautman. »Wir sind zu wenige!«
Vielleicht stimmte das. Die Kreatur blickte immer wieder von ihm zu Serena, Singh und wieder zurück, aber ihre Unsicherheit schien mit jedem Blick noch zu wachsen.
»Wir brauchen die anderen«, murmelte er. Vielleicht reichte es, wenn er dem Wächter mehrunbeteiligte Menschenzeigte, die es nicht angreifen durfte. »Astaroth!«