Er bekam keine Antwort und wiederholte seinen Ruf in Gedanken und so intensiv er nur konnte.
Astaroth! Wo bleibst du?Diesmal bekam er sofort eine Antwort.Jetzt hetz mich nicht!maulte der Kater.Ich bin fast da!Astaroth! Wir haben keine Zeit für Scherze! dachteMike konzentriert.Du musst Ben, Chris und Juan
hierher bringen! So schnell wie möglich! Es ist lebenswichtig!Okay, okay, okay,nörgelte Astaroth.Ich bin schon da. Noch diese Tür und ...Plötzlich verstummte die lautlose Stimme des Katers und das mitten im Wort. Mike wartete eine oder
zwei Sekunden vergeblich darauf, dass Astaroth weitersprach, dann rief er in Gedanken ein paar Mal seinen Namen, so intensiv er nur
konnte. Erbekam keine Antwort. Inherrschte nur Stille. »Verdammt!«, murmelte er. »Was ist?«, fragte Singh nervös. »Astaroth«,antwortete Mike. »Erseinen antwortetGedanken nicht! Irgendetwas stimmt da nicht!« Er überlegte nur eine Sekunde,dann kam er zu einem Entschluss.»Ich muss zu ihm!«
»Bist du verrückt?«, keuchte Singh. »Du kannst doch nicht weggehen! Sie werden uns angreifen!«
»Das werden sie sowieso«, antwortete Mike. »Ich muss die anderen holen. Halt sie auf, irgendwie!«
Er gab Singh gar keine Gelegenheit zu widersprechen, sondern fuhr herum und rannte aus dem Salon, so schnell er konnte. Irgendetwas war dort unten passiert und er musste herausfinden, was. Er wusste einfach, dass es wichtig war.
Vielleicht lebenswichtig.
Der Weg nach unten wurde zu einem wahren Spießrutenlauf. In der NAUTILUS herrschte eine unglaubliche Enge. Mike hatte alle Mühe, sich durch den überfüllten Gang zu quetschen. Männer, Frauen und Kinder drängelten sich buchstäblich auf jedem Fußbreit Boden. Selbst auf der Treppe nach unten saßen Menschen und stapelten sich Kisten und Säcke mit mitgebrachten Waren und hier und da entdeckte er auch einige von Argos’ Kriegern, die ihre Waffen abgegeben hatten, aber zum Großteil unverletzt waren. Offenbar waren sie klug genug gewesen, den zahlenmäßig hoffnungslos überlegenen Angreifern nicht allzu viel Widerstand entgegenzusetzen. Wenn er den Lärm bedachte, den sie gehört hatten, dann hatte der Kampf erstaunlich wenige Opfer gefordert.
Da die NAUTILUS hoffnungslos überfüllt war, brauchte er fast zehn Minuten, um das untere Deck und den Eingang der Kammer zu erreichen, in der er Ben und die anderen zurückgelassen hatte.
Die Tür stand weit offen. Zwei der Männer, die er mit an Bord genommen hatte, waren auf den Gang herausgetreten und sahen ihm ausdruckslos entgegen und Mikes Herz begann zu klopfen, während er die letzten Schritte zurücklegte. Seine Fantasie gaukelte ihm die düstersten Schreckensbilder vor, die hinter der Tür auf ihn warten mochten.
Der Anblick, der sich ihm bot, war aber vollkommen anders. Ben, Juan und Chris saßen zusammengekauert in einer Ecke und starrten mit leerem Blick vor sich hin. Astaroth saß
zwischen ihnen und putzte Selbstverständlichste von der Welt.sich,alswäreesdas»Astaroth?«, fragte Mike. »Warum antwortest Astaroth antwortete auch jetzteinmalauf seine Stimme, sonderndu nicht?«nicht, fuhrer fort,reagierte sichinnicht aller
Seelenruhe auf Katzenart zu putzen. Mike sah ihn noch eine Sekunde lang verwirrt an, dann war er mit einem Schritt bei ihm, ließ sich in die Hocke sinken und drehte den Kater fast gewaltsam herum.
Astaroth fauchte, bleckte warnend die Zähne und schlug mit der Pfote nach ihm. Mike zog die Hand erschrocken zurück, aber nicht schnell genug – auf seinem Handrücken blieb ein langer, blutiger Kratzer zurück.
»Bist du verrückt geworden?«, ächzte Mike. »Astaroth, was ist denn in dich gefahren?« Astaroth fauchte noch einmal, entfernte sich rückwärts gehend noch ein Stück weit von ihm und fuhr dann herum, um schnell wie der Blitz aus dem Raum zu fliehen. Mike sah ihm erschrocken nach.
Als er sich wieder aufrichtete, raschelte es unter seinen Füßen. Überrascht sah er an sich herab und bemerkte, dass er auf eines der Paketstücke getreten war – den Sack, den er selbst hereingebracht hatte. Eigentlich ohne selbst genau zu wissen, warum, ließ er sich noch einmal in die Hocke sinken und öffnete den Sack.
Er enthielt nichts außer eingetrockneten, braunen und grünen Blättern. Blätter einer ganz bestimmten Art, die Mike schon einmal gesehen hatte ...
Und dann wusste er auch, wo.
»Der Kristallwald«, murmelte er. Blätter wie diese waren auf den Bäumen in dem kleinen Hain gewachsen, in dem sie auf Sarn gewartet hatten. Demselben Wald, in dem Astaroth das erste Mal so sonderbar reagiert hatte, ohne sich hinterher auch nur daran erinnern zu können.
Mike dachte einen Moment angestrengt nach, dann winkte er einen der Männer zu sich herein. »Du da!«, sagte er. »Der Kristallwald! Was weißt du darüber?«
»Der Kristallwald?« Der Mann sah ihn fragend an. »Was soll damit sein? Wieso fragst du?«
»Ich will nur wissen, warum er diesen Namen hat«, sagte Mike. »Ich habe dort keine Kristalle gesehen.«
»Darüber weiß ich nichts«, antwortete der Mann. »Ich war niemals dort.«
In einer Welt, die so klein wie Lemura ist, ist dies im Grunde nicht vorstellbar, dachte Mike. Aber er verzichtete darauf, dem Mann eine entsprechende Frage zu stellen. Er spürte ganz deutlich, dass er diese Frage nicht beantwortenwollte.Aber warum?
»Es sind die Blätter«, sagte Juan plötzlich. »Sie enthalten die Kristalle. Sie wachsen darin.«
Mike starrte Juan einen Moment lang verwirrt an, dann betrachtete er die vertrockneten Blätter noch einmal genauer. Als er sie mit spitzen Fingern auseinander zupfte, rieselten unzählige winzige, schimmernde Kristallsplitter zu Boden, keiner davon größer als ein Stecknadelkopf.
»Woher weißt du das?«, fragte er verblüfft. »Wir mussten die Blätter ernten«, sagte Juan, »bevor wir in die Eisengruben kamen. Es ist gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Man bekommt schlechte Träume, wenn man zu lange in ihrer Nähe ist«, sagte Juan. »Manche sind gestorben.«
Mike ließ das Blatt behutsam wieder zu Boden sinken, rieb sich sorgfältig die Kristallsplitter von den Händen und stand auf. Auf eine entsprechende Geste hin erhoben sich auch Ben und die anderen und verließen die Kammer. Mike folgte ihnen, blieb dann aber noch einmal stehen und sah auf den prall gefüllten Sack hinab. Kristalle, die schlechte Träume bringen ...
»Was habt ihr damit gemacht?«, fragte er. »Wofür sind diese Kristalle gut?«
»Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete Juan. »Die Krieger haben sie abgeholt und in den Palast gebracht.«
Plötzlich hatte Mike das Gefühl, der Lösung aller Fragen so nahe zu sein wie nie zuvor. Irgendetwas stimmte nicht, nicht nur mit Astaroth und seinen Freunden, sondern mit dieser ganzenSituation.Und er wusste einfach, dass er alle Teile der Antwort bereits besaß und nur nicht in der Lage war, sie in die richtige Reihenfolge zu sortieren.
Doch er kam auch diesmal nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu verfolgen. In dem Gang hinter ihm entstand Aufregung, dann gellte ein Chor entsetzter Schreie durch das Schiff. Verwirrt und vollkommen ratlos drehte sich Mike herum –
Und erstarrte vor Entsetzen.
Nur ein Dutzend Schritte entfernt hatte sich die Tür der Tauchkammer geöffnet und eine riesenhafte, graue Gestalt trat heraus.
Es war kein Mensch. Über den breiten, muskulösen Schultern thronte ein gewaltiger kahler Schädel, ohne dass es einen Hals dazwischen gab. Die zu weit an den Seiten stehenden starren Augen blickten kalt und waren von einem Intellekt erfüllt, der vollkommen anders war als der eines Menschen. Das Geschöpf hatte keine Nase und sein Mund war der eines Haifisches, breit und geschlitzt und starrend vor Zähnen.