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Als sich sein Blick wieder klärte, hatte der Wächter Serena erreicht und beugte sich über sie. Mikes Herz stockte vor Entsetzen, als er gewahrte, wie das Geschöpf die Hände ausstreckte. Seine Pranken waren so gewaltig, dass Serenas Kopf vollkommen darin zu verschwinden schien. Mike sah, wie Serena sichaufbäumte, und der Anblick ließ ihn Schmerz, Übelkeit und seine eigene Furcht vergessen. Blitzschnell sprang er auf die Füße, rannte auf den Wächter zu und schrie Singhs Namen.»Singh! Er bringt sie um!«

Singh rührte sich nicht und Mike stieß sich mit aller Kraft ab und sprang den Haifischmann an. Obwohl der Koloss mindestens dreimal so viel wog wie er und fast anderthalb Mal so groß war, brachte sein ungestümer Anprall das Geschöpf aus dem Gleichgewicht. Es taumelte, ließ von Serena ab und drehte sich mit einer Bewegung herum, die schwerfällig und träge wirkte, aber so kraftvoll war, dass Mike zum zweiten Mal quer durch den Salon geschleudert wurde.

Als er sich diesmal wieder hochrappelte, stand der Wächter über ihm. Seine kalten Fischaugen starrten auf ihn herab und Mike hatte das Gefühl, als blickten diese kalten Augen direkt in seine Seele.

»Singh!«, keuchte Mike.

Singh machte tatsächlich einen halben Schritt in seine Richtung, blieb dann aber wieder stehen. Seine Hände zitterten und in seinen Augen flackerte die nackte Panik.

Der Wächter starrte Mike noch eine weitere Sekunde lang an, dann drehte er sich schwerfällig herum und tat ein paar Schritte zur Seite. Mike stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, biss die Zähne zusammen und versuchte aufzustehen. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber wenigstens schien sein Bein nicht gebrochen zu sein. Stöhnend humpelte er auf Serena zu und beugte sich über sie.

»Serena! Was ist mit dir?«, fragte Mike. »Was hat er dir angetan?!«

Serena hob langsam den Kopf. Ein Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit lag auf ihrem Gesicht. Ihr Blick flackerte. Umständlich setzte sie sich ganz auf, ließ ihren Blick einmal durch den Salon schweifen und sah dann wieder Mike an.

»Mike?«, murmelte sie. »Was ... ist passiert?«

Es dauerte noch eine geschlagene Sekunde, bis Mike überhaupt begriff, was diese Frage bedeutete. Serena hatte seinen Namen ausgesprochen. Sieerinnertesich!

Mike wandte ungläubig den Blick und sah, wie sich der Wächter nun auf Juan zubewegte und die Hände nach ihm ausstreckte, um ihn auf dieselbe Weise zu berühren wie Serena. Juan wich weder vor ihm zurück noch zeigte er das geringste Anzeichen von Furcht. Er wusste, dass ihm das Geschöpf nichts zu Leide tun würde.

Ganz im Gegenteil ...

Mike wandte sich wieder zu Serena um. Sie wirkte noch immer verstört und bis ins Mark erschrocken. Aber die furchtbare Leere war aus ihren Augen verschwunden. Der Wächter hatte den Bann gebrochen, den Argos’ Magie über sie geworfen hatte. Ihre Erinnerungen und ihr freier Wille waren wieder da!

Mike fuhr herum. Juan war zu Boden gesunken und blickte ebenso verwirrt in die Runde. Auch seine Erinnerung war wieder da!

Nacheinander ging der Wächter nun auch zu Chris und Ben und berührte sie auf dieselbe Weise. Dann wandte er sich um und sah Singh an. Der Inder keuchte vor Schrecken und prallte zurück. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck nackter Panik.

»Keine Angst!«, sagte Mike. »Er tut dir nichts, Singh!«

»Das ist nicht Singh«, sagte Serena leise.

Mike erstarrte. Singh wich weiter vor dem Wächter zurück, bis er gegen das Pult stieß, hinter dem Trautman stand. Der Wächter machte noch einen Schritt in seine Richtung und blieb stehen. Seine riesigen Hände öffneten und schlossen sich, als wollte er etwas packen und zerquetschen.

»Was ... hast du gesagt?«, murmelte Mike.

»Das ist nicht Singh«, sagte Serena noch einmal. »Singh war mit mir zusammen in Argos’ Kerker. Die ganze Zeit. Ebenso wie Trautman.«

Mike war wie vor den Kopf geschlagen. Ungläubig sah er Singh an, dann Trautman und dann wieder Singh.

Und dann geschah etwas durch und durch Unheimliches: Zuerst Singhs, dann Trautmans und schließlich auch Sarns Gesichter begannen zu verschwimmen. Ihre Züge lösten sich auf wie Spiegelungen auf klarem Wasser, in das jemand einen Stein geworfen hatte. Als sie sich wieder neu bildeten, hatten sie sich total verändert. Vor Mike standen nun nicht mehr Singh, Trautman und der abtrünnige Krieger, sondern Argos, Vargan und Tarras, die drei Lemurer, die die NAUTILUS seinerzeit gekapert und hierher gebracht hatten.

Waaaaas?!!kreischte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Aber das ist doch unmöglich! Wie konnte er –

»Dich so täuschen?«, fiel ihm Mike laut ins Wort. »Mach dir keine Vorwürfe, Astaroth. Er hat uns alle getäuscht, nicht nur dich.«

»Das war leicht«, sagte Argos abfällig. »Ihr seid dumm. Ihr seht nur das, was ihr zu sehen erwartet.«

Und plötzlich wurde Mike alles klar; so klar, dass er sich fragte, wie um alles in der Welt er auch nur eine Sekunde darauf hatte hereinfallen können. Singhs sonderbares Verhalten, das so gar nicht zu dem Singh passte, den er gekannt hatte. Die überraschende Leichtigkeit, mit der es ihnen gelungen war, sich quer durch die Stadt und an Bord der NAUTILUS zu schleichen. Die Mühelosigkeit, mit der es Sarns angeblichen Rebellen gelungen war, die Krieger an Bord des Schiffes zu überwältigen. Und noch mehr ...

»Wozu das alles, Argos?«, fragte er leise mit bebender Stimme. »Die ... die Männer im Bergwerk. Die Krieger in der Stadt und ... und die Leute an Bord der Jagdschiffe! Du ... du hast deine eigenen Leute umgebracht! Warum?«

»Sie waren nichts wert«, sagte Argos abfällig. »Werkzeuge, die ihren Dienst getan haben. Ich musste es doch glaubhaft gestalten.«

»Das ist dir gelungen«, sagte Mike bitter. »Und ich bin darauf hereingefallen, ich verdammter Narr!«

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Serena. »Er kann jeden täuschen. Er ist der Meister der Lüge.«

»Aber warum?«, fragte Mike. »Wozu diese Farce, Argos?«

»Weil Lemura untergeht«, antwortete Argos. »Und sie uns niemals gehen lassen würden.«

»Aber ihr wart doch schon draußen!«, begehrte Mike auf. »Ihr wart frei! Warum musstet ihr zurückkommen?!«

»Um ihre Freunde zu holen.« Serena trat mit einem Schritt neben ihn und deutete anklagend auf Argos. »Und weil es ihnen nicht reicht, einfach nur frei zu sein! Der Quell ihrer magischen Macht liegt hier unten in Lemura. Ohne sie wären sie ganz

normale Menschen und das reicht ihnen nicht.«

»Die Blätter aus dem Kristallwald«, vermutete Mike. Deshalb also hatte Astaroth jedes Mal vollständig die Kontrolle verloren, wenn er in die Nähe der sonderbaren Gewächse gekommen war.

»Sie verstärken unsere Kraft«, bestätigte Argos hämisch. »Die Laderäume des Schiffes sind gefüllt damit. Mach dir also keine Sorgen – der Vorrat wird ausreichen, bis wir genügend neue Bäume in eurer Welt angepflanzt haben. Und danach werden wir die Macht in eurer lächerlichen Welt übernehmen.«

»Niemals«, sagte Serena. »Das werden sie nie zulassen!«

Sie deutete auf die drei grauen Kolosse an der Tür, aber Argos lachte nur. Wie hingezaubert erschien plötzlich in seinen und in den Händen der beiden anderen Lemurer die unheimlichen Waffen, mit denen Sarn vorhin einen der Krieger niedergeschossen hatte.

»Glaubst du wirklich, wir hättenAngstvor ihnen?«, fragte Argos höhnisch.

»Schieß und die anderen werden uns alle töten«, sagte Serena. »Sie können die NAUTILUS vernichten.«