Erzknollen von seinem Grund zu holen.
Auch jetzt war das türkisfarbene Wasser nicht still. Ein fingerdickes, geflochtenes Tau war um einen eisernen Pfahl am Seeufer geschlungen und führte straff gespannt ins Wasser hinab. Eine nicht enden wollende Kette von Männern, Frauen und Kindern tastete sich an diesem Seil entlang und verschwand ohne zu zögern im Wasser. Auf den Gesichtern der Menschen war keine Spur von Furcht oder auch nur Unsicherheit zu erkennen. Die allermeisten von ihnen wussten nicht wirklich, wohin sie gingen oder was sie erwartete. Sie standen noch immer unter Argos’ geistigem Einfluss und im Moment war das vielleicht gut so. Wahrscheinlich, dachte Mike, ist es die einzige Möglichkeit, mehr als zwanzigtausend Menschen innerhalb von weniger als zwei Tagen zu evakuieren. Hätten all diese Leute gewusst, dass sie ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen mussten und die Welt, in der sie geboren und aufgewachsen waren, nie mehr wieder sehen würden, wäre es wahrscheinlich zu einer Panik gekommen, die Hunderte von Opfern forderte.
In dem Wasser vor ihnen bewegte sich ein Schatten und dann tauchte Astaroth aus der Tiefe des Sees auf, sprang mit einem Satz an Land und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.
»Nett, dass du auch schon kommst«, sagte Mike spöttisch. »Wir wollten gerade ohne dich aufbrechen.«
Reizend, dass ihr gewartet habt,antwortete Astaroth auf seine lautlose Art.Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich die ganze Arbeit für euch mache.
Das entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber Mike war es seit Jahren gewohnt, dass Astaroth zumhemmungslosen Übertreiben neigte. »Ist auf der anderen Seite alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie sind alle ziemlich durcheinander,antwortete Astaroth.Argos’ Magie verliert dort schnell ihre Wirkung. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, wenn sie nach und nach wirklich zu sich kommen.
Wie auf sein Stichwort erschien Argos hinter ihnen. Der zukünftige Ex-König der Lemurer musterte Mike, Ben und den Kater finster, verbiss sich aber jede Bemerkung und sagte nur: »Es wird Zeit für euch. Wir werden nicht mehr lange in der Lage sein, die Kuppel zu stabilisieren.«
Er hat es ziemlich eilig, uns loszuwerden, wie?spöttelte Astaroth.Könnte es vielleicht sein, dass er nochetwas vorhat, von dem wir nichts wissen sollten?
Damit hat er nur zu Recht, dachte Mike. Aber er hatte zugleich alle Mühe, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken. »Kommt ihr gut voran?«, fragte er, ohne auf Argos’ Worte einzugehen.
»Es sind fast alle drüben«, antwortete Argos finster. »Ich hoffe, die Zeit reicht noch, um genug Werkzeuge und Waffen in die Höhle zu schaffen.«
»Ihr werdet keine Waffen brauchen«, antwortete Mike. »Das Verbotene Land ist groß genug für euch alle. Viel größer als Lemura. Und es gibt keine gefährlichen Tiere dort.«
»Aber Eingeborene«, antwortete Argos.
»Es sind keine Wilden«, sagte Ben. »Wir haben sie ein paar Mal getroffen, als wir drüben waren. Sie sind nur vorsichtig. Es sind Menschen wie ihr, Argos. Die Nachfahren derer, die angeblich von denWächternin die Tiefe gezogen und ertränkt worden sind. Sie waren niemals eure Feinde, hast du das immer noch nicht begriffen?«
Argos sagte nichts dazu, aber sein Blick machte klar, dass ihn Bens Worte nicht wirklich interessierten. Astaroth war immer noch nicht in der Lage, Argos’ Gedanken zu lesen, aber das war auch gar nicht notwendig. Mike konnte sich ziemlich konkret vorstellen, was Argos und die anderen vorhatten.
Sie würden eine ziemlich unangenehme Überraschung erleben.
»Du hast Recht«, sagte er. »Es wird Zeit. Wir müssen gehen. Ich wünsche dir und deinen Leuten viel Glück in eurer neuen Heimat, Argos. Auch wenn wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen werden.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Argos. In seinen Worten war etwas eindeutig Drohendes und vermutlich waren sie auch ganz genau so gemeint. Mike hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen. Astaroth und Ben schlossen sich ihm ebenso schweigend an.
Eine halbe Stunde später erreichten sie den Ausgang der Eisenminen. Sie waren vollkommen allein. Alle Bewohner Lemuras, die sich noch nicht in die riesigen unterirdischen Höhlen geflüchtet hatten, die ihre neue Heimat werden würden, waren bereits unten am Ufer der kleinen Seen, die die einzige Verbindung zwischen Lemura und dem Verbotenen Land darstellten. Sobald die letzten Lemurer die Mine verlassen hatten, würden große Sprengladungen die Durchgänge verschließen und dann gab es kein Zurück mehr.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich Lemura auf schreckliche Art verändert. In der riesigen Kuppel gähnten nun Dutzende von Rissen, durch die das Wasser immer schneller hereinströmte. Die untere Ebene der Stadt hatte sich längst in einen einzigen riesigen See verwandelt, und was nicht dem Wasser zum Opfer gefallen war, das hatten die immer heftiger werdenden Erdbeben zerstört. Selbst wenn die Kuppel nicht zusammenbrechen würde, so war Lemura schon jetzt unbewohnbar geworden. Plötzlich erschien es ihm angeraten, sich wirklich zu beeilen, um die Stadt und die dort wartende NAUTILUS zu erreichen. Selbst wenn sie sich beeilten, würden sie zwei Stunden brauchen, um zum Hafen zu kommen.
Trotzdem unterbrachen sie ihren Marsch auf halbem Wege noch einmal, um sich mit Singh und Juan zu treffen, die in Argos’ Kristallwald auf sie warteten. Sie hatten eine Anzahl großer Kisten und Kartons in dem kleinen Hain verteilt und diese mit einem Gewirr aus Kabeln und Zündschnüren verbunden.
»Seid ihr fertig?«, fragte Mike.
»Gerade eben«, antwortete Singh. »Und jetzt nichts wie weg!«
Sie stürmten weiter, bis sie eine Entfernung von gut fünfoder sechshundert Metern zwischen sich und den Kristallwald gebracht hatten. Singh, der eine kleine Rolle in der Hand hielt und die Zündschnur davon abwickelte, deutete auf ein Gewirr mächtiger Felsbrocken, zwischen dem sie rasch Deckung suchten. Singh duckte sich als Letzter hinter einen Stein, steckte
das Ende der Zündschnur in Brand und atmete dann hörbar auf.
Während sie der Funken sprühenden Flamme zusahen, die sich rasch auf den Kristallwald zubewegte, fragte Mike: »Ist auf der NAUTILUS alles vorbereitet?«
»Wir haben sämtliche Blätter und Samen hinausgebracht, die sie an Bord geschafft haben«, antwortete Juan. »Und auch die, die wir noch in der Lagerhalle gefunden haben.«
»Dann wird es in der neuen Heimat der Lemurer keinen Kristallwald mehr geben«, sagte Mike zufrieden. »Und keine Magier, die anderen ihren Willen aufzwingen«, fügte Ben hinzu. »Schade, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, wenn er in einer Stunde hierher kommt, um Samen für seine verdammten Kristallbäume zu holen.«
Er lachte und der Laut ging nahtlos in das gewaltige Donnern über, mit dem die Sprengladungen explodierten, die Singh und Juan im Verlauf der letzten beiden Stunden im Kristallwald gelegt hatten. Mike zog hastig den Kopf ein und wartete mit angehaltenem Atem ab, bis der Boden aufhörte zu zittern und keine Trümmer mehr auf sie herabregneten. Dann hob er vorsichtig den Kopf über den Rand ihrer Deckung.
Wo der Kristallwald gewesen war, gähnte nur noch ein gewaltiger Krater, der sich bereits mit Wasser zu füllen begann. Und mit dem Kristallwald war auch zugleich die Quelle von Argos’ magischer Macht verschwunden. Das neue Lemura würde anders aussehen und Mike war ziemlich sicher: besser.
»Also los«, sagte er. »Gehen wir. Ich möchte endlich wieder einmal die Sonne sehen.«