»O ja und außerdem haben Sie natürlich alle Antworten auf alle Fragen, die sie stellen konnte, in ihren Gedanken gelesen«, sagte Mike bitter. »Wirklich eine Leistung. Bravo!« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Als er keine bekam, fuhr er fort: »Was geschieht jetzt mit uns? Wirklich, meine ich?«
»Nichts«, antwortete Argos. »Ich verspreche, dass ihr freigelassen werdet.«
»Warum sollte ich Ihnen das glauben?«, schnappte Mike. »Ihre Kameraden glauben unserem Ehrenwort ja auch nicht.«
»O doch, das tun sie«, behauptete Argos. »Sie wollen nur kein Risiko eingehen. Der Weg, der vor uns liegt, ist nicht sehr weit, aber gefährlich. Und von unserer Mission hängt so unendlich viel mehr ab, als du dir auch nur vorstellen kannst. Du und die anderen, ihr werdet in euren Kabinen bleiben. Es ist sicherer, für uns, aber auch für euch und für Serena.« »Und was geschieht mit ihr?«, wollte Mike wissen. »Nichts«, antwortete Argos. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich ihr Leben verteidigen werde wie mein eigenes. Niemand wird ihr auch nur ein Haar krümmen.« »Ach, und Sie glauben, das reicht?«, fragte Mike. »Sie haben ihr viel mehr angetan, als es diese beiden Verbrecher da oben jemals könnten, ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Ja«, antwortete Argos. »Ich weiß das. Und es tut mir unendlich Leid. Bitte glaube mir. Könnte ich es ungeschehen machen, würde ich es tun. Aber das kann ich nicht.« Er seufzte. »Ich werde dich jetzt allein lassen. Wenn alles gut geht, komme ich vielleicht in drei Tagen schon wieder. Kann ich nochirgendetwas für dich tun?« »Ja«, antwortete Mike. »Warten Sie, bis wir auf dreitausend Metern sind,und dann steigen Sie ohne Taucheranzug aus der Schleuse!«
Argos sah ihn nur noch einen Moment lang traurig an, dann schüttelte er den Kopf, lächelte bitter und klopfte an die Türe, damit sein Kamerad, der draußen Wache stand, ihn hinausließ.
Die drei Tage, von denen Tarras und Argos gesprochen hatten, vergingen quälend langsam. Mike blieb wie alle anderen
während der gesamten Zeit in seiner Kabine eingesperrt und er wusste schon bald nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, ob er einmal oder zweimal geschlafen hatte und wie viel Zeit wirklich verstrich. Die Maschinen arbeiteten jetzt ununterbrochen mit voller Kraft und der Rumpf dröhnte, knisterte und knirschte unentwegt. Einmal glaubte Mike sogar das explosionsartige Krachen von Nieten zu hören, die unter der gewaltigen Belastung des Wasserdrucks platzten. Sie mussten also sehr tief unter Wasser sein. Schließlich ging seine endlose Gefangenschaft zu Ende. Wieder näherten sich Schritte vor der Tür. Mike, der auf dem Bett lag, hob den Kopf, machte sich aber nicht einmal mehr die Mühe aufzustehen. Er war der vergeblichen Hoffnung freigelassen zu werden in den letzten Stunden und Tagen einmal zu oft aufgesessen. Diesmal jedoch war sie nicht vergeblich. Die Schritte hielten vor seiner Tür an, dann hörte er, wie der Riegel zurückgeschoben wurde und einen Augenblick später blickte Vargan zu ihm herein. Er hatte seine zerschlissene englische Seefahreruniform gegen eine der grauen Bordmonturen der NAUTILUS eingetauscht und trug nun ebenfalls eine Pistole im Gürtel. Ohne ein Wort zog er die Tür ganz auf und trat einen Schritt zurück. Mike folgte der unausgesprochenen Einladung, erhob sich langsam vom Bett und schlurfte an dem Atlanter vorbei auf den Gang.
Sie waren allein. Alle anderen Türen standen offen. So wie er der Letzte gewesen war, den sie eingesperrt hatten, war er nun auch der Letzte, den sie wieder freiließen. Auf Vargans Wink hin begann er in Richtung Salon zu gehen.
Seine Vermutung erwies sich als richtig. Außer ihm waren alle anderen bereits im Salon versammelt. Zuseiner großen Überraschung und noch größeren Freude erkannte er, dass die Atlanter selbst Serena freigelassen hatten. Sie saß neben Trautman und Singh auf der Couch am Kartentisch und ein erfreuter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie ihn erkannte. Mike eilte los, schloss sie heftig und kurz in die Arme und wandte sich dann an Trautman: »Was ist passiert? Wo sind wir?«
Trautman hob nur die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er.
Mike sah zum Fenster. Die Irisblende vor dem gewaltigen Bullauge war geschlossen, sodass er nicht sehen konnte, was draußen war. Vermutlich hätte es ihm aber auch nichts genutzt, wäre sie geöffnet gewesen. Sie mussten unendlich tief unten im Meer sein, in einem Bereich ewiger Finsternis, den niemals ein Sonnenstrahl erreicht hatte.
Nach einigen weiteren Sekunden jedoch beantwortete Argos seine Frage. Er stand zusammen mit den beiden anderen Atlantern am Steuerpult und bediente konzentriert die komplizierten Instrumente, die die NAUTILUS lenkten.
»Wir haben unser Ziel erreicht. Noch wenige Minuten und wir sind da.«
Wie zur Antwort darauf erzitterte die NAUTILUS sanft; es war nicht, als hätte etwas das Schiffgetroffen, sondern mehr, als wäre es von einer großen, unendlich starken Hand ergriffen und ein Stück zur Seite gezogen worden. Vermutlich waren sie in eine unterseeische Strömung geraten.
»Wo sind wir?«, fragte Mike noch einmal. Argos tauschte einen raschen Blick mit Tarras, den dieser nach einem unmerklichen Zögern mit einem Kopfnicken beantwortete. Der Atlanter
betätigte einen Schalter und die riesige Irisblende begann sich
summend auseinander zu schieben.
Das Erste, was Mike sah, als sich das Fenster geöffnet hatte, war eine geradezu unglaubliche Anzahl von Haien, die das Schiff in einem dichten Schwärm begleiteten. Nicht einer von ihnen schien kleiner als fünf oder sechs Meter zu sein und er erkannte allein auf den ersten Blick mindestens ein halbes Dutzend jener gigantischen Kolosse, denen sie schon einmal begegnet waren. Dazwischen aber glaubte er auch einige fast menschenähnlich aussehende Gestalten zu erkennen – auch die unheimlichen Haifischmenschen hatten die Verfolgung also noch nicht aufgegeben!
»Sie sind hartnäckig, nicht wahr?«, sagte Tarras lachend. »Aber leider auch ziemlich dumm. Ein paar von den großen Fischen da draußen könnten dieses Schiff knacken wie eine Nussschale, aber das werden sie nicht tun, solange ihr an Bord seid.«
»So viel zu der Behauptung, dass Menschen Tieren ethisch überlegen wären«, sagte Mike hart.
In Tarras’ Augen blitzte es wütend auf, doch nur für einen Moment, dann hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und lachte. »Ich beginne mich langsam an deinen Humor zugewöhnen, mein Junge«, sagte er. »Übertreibe es nur nicht, sonst komme ich nachher auf die Idee dich bei mir zu behalten. Vielleicht als Hofnarren. Wo wir doch schon einen ...« Er lachte erneut, diesmal in Argos’ Richtung. »... König haben.« Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Serena bei diesen Worten heftig zusammenfuhr. Ihre Augen begannen feucht zu schimmern. Fast ohne sein Zutun kroch seine Hand zu ihr und ergriff ihre Finger. »Da!«, rief Chris plötzlich. »Was ist das?« Aller Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Fenster zu. Die NAUTILUS hatte offensichtlich den Kurs geändert, denn nun glitt etwas ins Sichtfeld des Bullauges, das vorher nicht da gewesen war: Licht! Es war ein mattes, dunkelgrün schimmerndes Licht, das in unterschiedlich großen Flecken direkt aus dem Meeresgrund unter ihnen zu dringen schien. An manchen Stellen waren es nur winzige, stecknadelkopfgroße Punkte, andernorts wieder große Bereiche, an denen der gesamte Meeresboden wie unter einem unheimlichen inneren Feuer zu glühen schien und je weiter sich die NAUTILUS dem Phänomen näherte, desto klarer erkannte Mike seine Form. Es war eine Kuppel.