Er wagte es nicht, Sarns Aufforderung Folge zu leisten und sich zu setzen. Auch wenn sie auf dem Weg hierher nicht viel davon zu Gesicht bekommen hatten, so wusste er doch, dass der Wald voller Leben war. Gefährlichem Leben. So blieb er angestrengt lauschend und mit heftig klopfendem Herzen stehen, bis Sarn zurückkehrte.
Der Krieger sah besorgt aus. »Sie sind uns auf den Fersen«, sagte er.
»Sie? Von wem sprichst du?« Mike fuhr erschrocken zusammen, als ihm klar wurde, dass ihm ganz versehentlich das vertraute »du« herausgerutscht war. Der Krieger machte jedoch keine Anstalten, ihm für diese Verfehlung die Zunge herauszuschneiden, sondern beantwortete seine Frage. Oder auch nicht, denn er sagte kopfschüttelnd: »Wenn wir Glück haben, wirst du das nicht erfahren. Es tut mir Leid, aber wir können keine Rast einlegen. Sie kommen rasch näher. Ich fürchte, sie haben einen Spurensucher bei sich.«
Er machte eine Kopfbewegung nach vorne und Mike erschrak abermals. Vor ihnen lag nämlich kein Wald mehr, sondern der Große Abgrund – der streng genommen keinAbgrundwar, sondern eine hundert Mannslängen lotrecht aufstrebende Wand aus Fels und Korallen. Den Namen Großer Abgrund hatten die Menschen Lemuras geprägt, die oberhalb der Felswand lebten.
Was aber nichts daran änderte, dass Mike allein beim Anblick dieser Wand die Knie schlotterten. Nun, zumindest war ihm jetzt klar, warum Sarn ihn gefragt hatte, ob er klettern konnte ...
»Wir werden vier Stunden brauchen, um dort hochzukommen«, sagte Sarn besorgt. »Wenn nicht mehr. Sie werden uns sehen.«
»Warum warten wir dann nicht, bis es Nacht ist?«, schlug Mike vor. Erst als er die Worte bereits ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, was er gesagt hatte.
Das heißt: Genau genommen wurde es ihmnichtklar. Er blinzelte verwirrt.
»Nacht?«, wiederholte Sarn fragend. »Was meinst du damit?«
»Keine Ahnung«, gestand Mike achselzuckend. »Es ist mir einfach so eingefallen.«
»Offenbar kommen deine Erinnerungen zurück«, sagte Sarn, aber Mike schüttelte traurig den Kopf.
»Nur die Worte«, sagte er. »Sie bedeuten mir nichts.«
»Noch nicht.« Sarn machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Zauber verliert seine Wirkung. Das hatte ich gehofft. Vielleicht kannst du dich in ein paar Tagen bereits wieder an alles erinnern. Aber jetzt müssen wir dafür sorgen, dass du auch lange genug am Leben bleibst, um dich zu erinnern. Komm!«
Mike folgte dem Krieger; widerwillig, aber sehr schnell. Die Wand kam ihm immer höher vor, je mehr er sich ihr näherte. Als sie an ihrem Fuß angelangt waren, schien sie bis zur Himmelskuppel zu reichen, annähernd drei Meilen über ihnen.
Zögernd begann er neben Sarn an der Wand emporzusteigen. Anfangs ging es besser, als er erwartet hatte. Die Wand war zwar vollkommen senkrecht, war aber rissig und porös, sodass seine Finger und Zehen genug Halt fanden. Außerdem erwies er sich als geschickterer Kletterer, als selbst Sarn erwartet zu haben schien, denn der Krieger warf ihm überraschte Blicke zu. Er sagte nichts, aber mit Sicherheit hatte er erwartet, auf Mike Rücksicht nehmen zu müssen. Das Gegenteil war der Fall. Zumindest auf den ersten Metern musste Sarn sich bemühen, um mit Mike Schritt zu halten, nicht umgekehrt.
Aber das blieb nicht allzu lange so. Mikes Kräfte erlahmten bald und die scharfkantigen Korallen, aus denen die Wand zum großen Teil bestand, scheuerten seine Finger wund. Sie hatten noch nicht ein Viertel erstiegen, als sie zum ersten Mal Halt machen mussten.
Sarn hatte einen schmalen Sims ausgemacht, der Platz für sie beide bot, wenn sie sich ein bisschen quetschten. Er kletterte voraus, half Mike das schmale Felsband ebenfalls zu erklettern und lehnte sich dann mit Schultern und Hinterkopf gegen den Stein, um die Augen zu schließen. Mike wurde allein bei dem Gedanken übel. Unter ihnen gähnte fünfzig Meter nichts und dann ziemlich harter Korallenboden. Sarn jedoch schien das nichts auszumachen. Mike hatte das Gefühl, dass er diese waghalsige Kletterpartie nicht zum ersten Mal hinter sich brachte.
Es tat ungemein wohl, seinen müden Gliedern endlich ein wenig Erholung gönnen zu können. Mit der Ruhe kam auch die Müdigkeit zurück, aber er getraute sich nicht im Sitzen zu schlafen wie Sarn.
Um nicht aus Versehen einzuschlafen, was mit Sicherheit zu einem tödlichen Sturz in die Tiefe geführt hätte, ließ er seinen Blick aufmerksam über das grünbraune Blätterdach des Waldes tief unter sich schweifen. Nach einer Weile entdeckte er eine Bewegung tief unter ihnen, aber nicht mehr allzu weit vom Fuß der Wand entfernt. Zwei, drei, vier Gestalten in schwarzen Mänteln und bronzefarbenen Brustharnischen und Helmen bahnten sich mit blitzenden Schwertern einen Weg durch den Wald.
»Das ... das sind ...Krieger!«,entfuhr es ihm.
Sarn öffnete die Augen. Er hatte nicht geschlafen, sondern nur
ausgeruht. »Und zwar die besten«, sagte er leise. »Argos´
Palastwache.«
»Aber wieso ... wieso laufen wir vor ihnen davon?«, fragte Mike verständnislos.
»Weil sie mich töten würden, wenn ich ihnen in die Hände fiele«, antwortete Sarn. »Und ich fürchte, dich auch.«
»Töten? Aber wieso denn? Du bist doch auch ein Krieger! Ein Mann wie sie!«
»Nein!« Sarns Widerspruch kam unerwartet heftig.
»Ich war einmal wie sie, das ist wahr. Aber es ist lange her. Ich gehöre zum Widerstand, weißt du?«
Mike hatte keine Ahnung, was derWiderstandwar.
»Bis gestern wusste niemand davon«, fuhr Sarn fort. »Ich habe im Geheimen gearbeitet. Als Krieger im Dienst der Herrschenden war ich dem Widerstand von großem Nutzen. Aber damit ist es nun vorbei.« Er seufzte und sah Mike an. »Ich hoffe, es war das Opfer wert ... Fühlst du dich stark genug, um weiterzuklettern?«
Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre ein ganz klares Nein gewesen. Aber dann sah Mike wieder nach unten. Die Krieger waren schon näher gekommen. Nicht mehr lange und sie würden ebenfalls damit beginnen, an der Wand emporzuklettern.
»Ich bin nicht sicher, ob ich es bis oben schaffe«, sagte er.
»Das musst du auch nicht«, antwortete Sarn geheimnisvoll. »Wir haben schon mehr als die Hälfte. Komm, weiter!«
Sie setzten ihren Aufstieg fort. Die kurze Rast hatte nicht gereicht, seine Kräfte wirklich wieder zu erneuern. Seine Hände
bluteten mittlerweile und jeder Muskel in seinem Körper tat weh.
Aber Sarn trieb ihn unbarmherzig an.
Stunden, wie es Mike vorkam, kletterten sie weiter, ohne dass das Ende der Felswand sichtbar näher zu kommen schien. Mike hatte längst den Punkt überwunden, an dem er der Meinung war, einfach nicht mehr weiter zu können, aber Sarn gestattete ihm nicht die geringste Pause. Als Mike einmal zufällig einen Blick in die Tiefe warf, da wurde ihm nicht nur sofort schwindelig, er verstand auch, wieso Sarn ihn so unbarmherzig antrieb.
Unter ihnen kletterten vier Gestalten in wehenden schwarzen Mänteln die Wand empor und bewegten sich deutlich schneller als sie.
»Wir haben es fast geschafft«, keuchte Sarn. »Sie werden uns nicht einholen, hab keine Angst.«
Mike sah verwirrt nach oben. Sie hatten etwas mehr als die Hälfte der Wand hinter sich. Die Anstrengung musste Sarns Sinne verwirrt haben! Trotzdem kletterte er verbissen weiter. Zurück ging es nicht mehr und vielleicht würden die Kräfte der Verfolger ja irgendwann einmal erlahmen.
Plötzlich war Sarn über ihm einfach verschwunden, doch bevor Mike auch nur richtig erschrecken konnte, tauchten Kopf, Schultern und rechter Arm des Kriegers wieder auf. Er winkte aufgeregt mit der Hand.