»Was verstehen Sie unter ungewöhnlich?«, wollte Trautman wissen.
»Hätten Sie dieses Schiff gesehen, wüssten Sie, was wir
meinen«, sagte Berghoff. »Da Sie es nicht wissen, haben Sie es
offensichtlich auch nicht gesehen.«
Jetzt hatte Mike Mühe, sich seine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. Es hatte eine Weile gedauert, aber dann wurde ihm schlagartig klar, dass die beiden Marineoffiziere von nichts anderem als der NAUTILUS sprachen. Die PRINZ FERDINAND war genau das Schiff, auf das sie schon vor zwei Tagen getroffen waren und das so warnungslos das Feuer auf sie eröffnet hatte. Und jetzt tauchte der Zerstörer ausgerechnet hier wieder auf. Das konnte kein Zufall mehr sein.
»Aber wir möchten Sie nicht mit hoher Politik langweilen«, sagte Vom Dorff. »Greifen Sie doch zu, mein lieber Kapitän.
Während wir essen, kann ich Ihnen vielleicht ein paar
Vorschläge unterbreiten, wie Sie die Wartezeit bis zum Erscheinen Ihres Geschäftspartners interessant gestalten
können.«
Sie griffen zu, und obwohl sich Mike in der Gesellschaft der beiden Offiziere alles andere als wohl fühlte, frühstückte er doch mit großem Genuss. Vom Dorff verstand zu leben, das musste man ihm lassen. Mike hatte seit Monaten nicht mehr so gut gegessen. »Ich habe mir übrigens die Freiheit genommen, bereits ein Schlittengespann für Sie und Ihren jungen Freund zu organisieren«, sagte Vom Dorff nach einer Weile. »Sie wollen Mike doch noch immer die Schönheiten der grönländischen Natur zeigen?«
Trautman nickte schweigend und Mike beugte sich tiefer über seinen Teller. Vom Dorff fuhr fort: »Es hat wenig Sinn, einfach aufs Geratewohl loszufahren, wissen Sie? Und es wäre gefährlich. Wie es der Zufall will, besitze ich eines der besten Gespanne der Stadt. Ich stelle es Ihnen gerne zur Verfügung – zusammen mit zuverlässigen Männern, die auf Sie aufpassen.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte Trautman, aber Vom Dorff schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, das ist es doch«, widersprach er. »Ich habe Sie ja gewarnt, den Eingeborenen nicht zu vertrauen. Es ist leider bereits in der ganzen Stadt bekannt, dass Sie ein beachtliches Vermögen mit sich herumtragen. Ich würde ungern die Nachricht bekommen, dass man Sie und Ihren jungen Freund mit durchschnittenen Kehlen in einem Hinterhof gefunden hat.«
»Jetzt übertreiben Sie aber!«, protestierte Mike.
Trautman warf ihm einen warnenden Blick zu und auch Berghoff ließ seine Gabel sinken und sagte dann: »Ich fürchte, das tut er nicht. Du bist noch sehr jung, Michael. Als ich in deinem Alter war, hatte ich auch noch Flausen im Kopf. Ich dachte, dass alle Menschen gleich wären und es keine minderwertigen oder besseren Völker gäbe. Aber glaube mir, so ist es nicht.«
Mike starrte den Kapitänleutnant fassungslos an. Einige Sekunden lang weigerte er sich zu glauben, was er da hörte. Berghoff schien seinen Blick jedoch mit Interesse zu verwechseln, denn er fuhr fort: »Diese Menschen hier sind anders als wir. Sie sind primitive Wilde, denen ein Menschenleben nichts gilt. Du darfst ihnen niemals vertrauen. Sie lächeln uns an, aber hinter diesem Lächeln hassen sie uns.«
Mike wusste genau, dass seine folgenden Worte ein Fehler waren. Aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten.
»Vielleicht liegt das daran, dass Sie mit einem Kriegsschiff hergekommen sind«, sagte er. »Ich wäre auch nicht sehr freundlich, wenn Besucher ihre Kanonen auf mich richten würden.«
»Mike!«, keuchte Trautman.
Berghoff lächelte jedoch nur und machte eine besänftigende Geste: »Lassen Sie nur. Wie ich bereits sagte: Er ist noch jung und hat das Recht, so zu denken. Sorgen Sie nur dafür, dass er alt genug wird, um seine Meinung zu ändern.«
»Dann müsste ich schon tausend Jahre alt werden!«, sagte Mike. »Und selbst dann nicht.« Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten flog und beinahe umgefallen wäre. Wütend riss er seine Jacke von der Lehne, fuhr herum und rannte aus dem Haus.
Es war hell geworden, während sie frühstückten, aber kein bisschen wärmer. Ein eisiger Wind fauchte Mike entgegen und schnitt wie mit Messern in sein ungeschütztes Gesicht, sodass er hastig den Kopf senkte und den Pelzkragen seiner Jacke hochschlug. Trotzdem sah er, dass der Platz vor dem Haus nicht mehr leer war. Neben den beiden Hundeschlitten, von denen Hansen gesprochen hatte, standen drei schwere Kettenfahrzeuge im Halbkreis, alle drei mit dem weiß umrandeten Kreuz der deutschen Wehrmacht verziert. Mike entdeckte auf Anhieb ungefähr ein Dutzend Marinesoldaten in weißen Pelzjacken, nahm aber an, dass die beiden Kapitäne sehr viel mehr Männer mitgebracht hatten. Von den Einwohnern Sadsbergens war niemand zu sehen.
Es verging eine geraume Weile, bis Trautman nachkam.
»Na«, sagte er, »hast du dich wieder beruhigt?« »Es tut mir Leid«, sagte Mike zerknirscht. »Aber mir sind die Nerven durchgegangen. Der Kerl ist unmöglich! Das kann er doch nicht wirklich so meinen!«
»Ich fürchte doch«, antwortete Trautman. »Mach dir keine Vorwürfe. Wahrscheinlich hätte ich an deiner Stelle auch nicht anders reagiert.«
»Dann sind Sie mir nicht böse?«, fragte Mike. »Böse? Warum sollte ich?« Trautman schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Was du getan hast, war vielleicht sogar ganz gut.«
»Wieso?«, fragte Mike verwirrt.
Trautman knöpfte seine Jacke zu und ging langsam los. Mike folgte ihm. Sie schwiegen, bis sie an den Wagen und ihrer Besatzung vorbei waren, dann fuhr Trautman fort: »Ich habe Vom Dorff und die beiden anderen einigermaßen beruhigt. Sie denken, du bist jung und ein bisschen naiv. Ich habe gesagt, dass ich zusammen mit dir einen langen Spaziergang machen werde, um in Ruhe mit dir zu reden. Vor einer Stunde erwarten sie uns nicht zurück. Das gibt uns Zeit, noch einmal mit Kanuat zu reden. Ich möchte lieber in der Lage sein, möglichst schnell von hier zu verschwinden.«
Mike erging es nicht anders. Trotzdem fragte er: »Warum?«
»Bist du blind?«, fragte Trautman. »Du glaubst doch nicht, dass die beiden Offiziere nur hergekommen sind, um mit Vom faul.« Er drehte im Gehen den Kopf und warf einen Blick zu Vom Dorffs Haus und den davor abgestellten Kettenfahrzeugen zurück, dann griff er in die Tasche und zog das Sprechgerät heraus. Er versuchte mehrmals Kontakt mit der NAUTILUS aufzunehmen, aber er bekam keine Antwort. Mike war nicht überrascht, als Trautman wie zufällig seine Schritte in Richtung Hafen lenkte.
Dorffzufrühstücken!SiehabeneinehalbeArmeemitgebracht.«»Unseretwegen?«»Bestimmtnicht«, sagte Trautman.»Irgendetwasisthier
Der zugefrorene Fluss kam ihm jetzt, im hellen Licht der Morgensonne, sehr viel breiter vor als vergangene Nacht und er sah auch, dass die Eisdecke längst nicht so massiv und geschlossen war, wie er geglaubt hatte. Das Eis wies zahlreiche Risse auf und war hier und da sogar zu Schollen zerbrochen. Und das war einigermaßen seltsam, fand Mike. Sie hatten diese Eisdecke vergangene Nacht von unten gesehen und da war ihnen nicht der winzigste Riss aufgefallen.
Plötzlich blieb Trautman stehen und riss ungläubig die Augen auf. Mike sah in dieselbe Richtung, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis auch er sah, was Trautman entdeckt hatte – und sein bodenloses Erschrecken verstand.
Auch vor dem gemauerten Kai war das Eis zu Schollen und unzähligen Stückchen zerborsten. Zwei der eisverkrusteten Schiffe lagen ein wenig schräg im Wasser, weil sie von einem riesigen, eisernen Turm zur Seite gedrückt worden waren. Auf der Mike und Trautman zugewandten Seite prangten ein weiß umrandetes Kreuz und die Beschriftung »U32«.