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Mike sah ihm nachdenklich hinterher. In den wenigen Minuten, in denen sie geredet hatten, war der Wind tatsächlich zu einem regelrechten Sturm geworden, sodass Kanuats Gestalt schon nach wenigen Schritten von weißem Schneegestöber verschluckt wurde. Mike schloss hastig den Eingang hinter ihm und wandte sich dann an Trautman.

»Eine wissenschaftliche Expedition«, sagte er. »Das müssen die Männer sein, die den SOS-Spruch abgesetzt haben.«

Trautman nickte. Er schwieg.

»Sie wirken nicht besonders überrascht«, fuhr Mike fort.

»Irgendjemand muss ja schließlich den Morseapparat bedient haben«, antwortete Trautman lahm. »Oder glaubst du vielleicht an Geister?«

»Sie wissen irgendetwas über diese Expedition«, behauptete Mike. »Sie wussten es schon, bevor wir hierher kamen, habe ich Recht?«

Trautman schwieg beharrlich weiter, aber sein Schweigen war im Grunde schon Antwort genug.

Der Sturm steigerte sich innerhalb der nächsten Minuten zu einem ausgewachsenen Orkan, der das Zelt und seine drei Insassen gute drei Stunden lang beutelte. Kanuat blieb so lange draußen, dass Mike sich Sorgen um ihn zu machen begann, und kaum war er zurück, da fing der Orkan erst richtig an zu toben. Sein Heulen wurde so laut, dass eine Unterhaltung ganz und gar unmöglich wurde. Kanuat nutzte die Zeit, die der Orkan sie zur Untätigkeit verdammte, zu dem wahrscheinlich einzig Vernünftigen: Er rollte sich auf dem Boden zusammen und schlief.

Mike betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Neid. Er hätte eine Menge darum gegeben, dasselbe tun zu können, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, dem Heulen des Sturmes zu lauschen und Angst zu haben.

Endlich hörte der Sturm auf und Kanuat öffnete wie auf Kommando die Augen und setzte sich auf. »Es wird Zeit«, sagte er. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zelt. Mike und Trautman tauschten einen überraschten Blick, dann folgten sie ihm.

Der Anblick, der sich draußen bot, war im ersten Augenblick ein Schock. Die Felsen hatten sie vor der ärgsten Wut des Sturmes beschützt; trotzdem war das Zelt beinahe unter Schnee begraben, der Mike eisig in den Nacken rieselte, als er ins Freie kroch. Der Wind hatte ihre Ausrüstung in weitem Umkreis über das Eis verteilt und selbst den schweren Schlitten ergriffen und gute fünfzig Meter weit fortgeschleudert. Von den Hunden war keine Spur mehr zu sehen. Als Kanuat jedoch nur einmal schrill auf den Fingern pfiff, tauchten sie wie aus dem Nichts auf und sprangen freudig kläffend an ihm hoch.

Sie brauchten fast eine halbe Stunde, um ihre Ausrüstung zusammenzusuchen und die Hunde wieder einzuspannen.

»Falls ihr noch etwas essen wollt, erledigt das jetzt«, sagte Kanuat, als sie fertig waren und aufsteigen wollten. »Wir halten bis Einbruch der Dunkelheit nicht mehr an.«

»Dann bringen Sie uns doch zum Berg der Geister?«, fragte Mike hoffnungsvoll.

Kanuat schüttelte den Kopf. »Ich bringe euch bis zur großen Ebene«, sagte er. »Von dort aus könnt ihr den Berg in einem Tagesmarsch erreichen. Ich werde eine Woche auf euch warten. Nicht länger.«

Kanuat machte seine Worte wahr und hielt bis zum Einbruch der Dämmerung nicht mehr an. Doch obwohl die Fahrt Stunde um Stunde dauerte, schien die Zeit wie im Fluge zu vergehen. Die schweigende Pracht der grönländischen Landschaft zog Mike schon bald in ihren Bann, sodass ihm gar nicht richtig bewusst wurde, wie viele Meilen sie zurücklegten. Die Landschaft, durch die sie fuhren, war nämlich alles andere als langweilig. Gewaltige, vom Wind leer gefegte Ebenen wechselten sich mit fantasievollsten Felsformationen oder sanften Dünen ab, tief eingeschnittenen Tälern oder kleinen, zugefrorenen Seen und Bachläufen. Und sie sahen auch eine erstaunliche Anzahl von Tieren, mit denenMike in dieser erstarrten weißen Ödnis nun wirklich zu allerletzt gerechnet hätte: Vögel, Schneehasen und Polarfüchse, aber auch Robben und streunende Hunde und einmal sogar in großer Entfernung einen weißen Flecken, von dem Trautman behauptete, es handelte sich um einen Eisbären. Kanuat sagte nichts dazu, änderte den Kurs des Gespanns aber ein wenig, sodass sie dem Tier, oder was immer es sein mochte, nicht näher kamen.

Bald danach tauchte vor ihnen ein verschwommener Umriss am Horizont auf. Es war der Berg der Geister, wie Kanuat ihnen erklärte, und je näher sie ihm kamen, desto mehr glaubte Mike zu verstehen, warum die Eingeborenen diesen Berg mit so vielen Legenden und unheimlichen Geschichten umgeben hatten. Er bot wirklich einen bizarren Anblick.

Bedachte man die große Entfernung, in der sie sich noch befanden, musste er aber wahrhaft gigantisch sein. Allerdings war er keineswegs Teil eines Bergmassivs, wie sie sich überall am Horizont erhoben, sondern ragte ganz allein aus einer riesigen, vollkommen leeren Ebene empor und auch seine Form war sehr sonderbar: Das Eis, das ihn über und über bedeckte, hatte alle Kanten und Winkel abgerundet, trotzdem wirkte er auf Mike eher wie eine zyklopische Burg als wie ein natürlich entstandenes Objekt; eine Burg mit unzähligen Türmen und Zinnen, Erkern und Vorsprüngen, Giebeln und Winkeln.

Als das Blau des Himmels allmählich zu verblassen begann, hielt Kanuat an und schlug das Nachtlager auf.

»Das ist also der Berg der Geister«, begann Trautman, als sie mit dem Abendessen fertig waren. Mike war sehr müde und er nahm an, dass es Trautman und Kanuat auch nicht anders erging. Trotzdem machte noch keiner von ihnen Anstalten, schon ins Zelt zu kriechen. Allein der Gedanke an die drückende Enge, die sie dort drinnen erwartete, ließ Mike schaudern.

»Warum nennt ihr ihn so?«, fuhr Trautman fort, als der Inuit auch nach einer Weile nicht auf seine Worte reagierte. »Doch bestimmt nicht nur, weil er so seltsam aussieht.«

»Wartet ab«, antwortete Kanuat. »Die Geister kommen, wenn es dunkel ist.«

Trautman zog viel sagend die linke Augenbraue hoch, beließ es dann aber bei einem Achselzucken und deutete auf die gewaltige Ebene, die vor ihnen begann und sich bis zum Berg der Geister erstreckte. »Wie weit ist es noch bis zum Berg? Bestimmt zehn Meilen.«

»Fünfzehn«, korrigierte ihn Kanuat seelenruhig. »Ihr könnt es in vier oder fünf Stunden schaffen, wenn ihr euch beeilt. Ich werde hier auf euch warten.«

»Aufmich«,verbesserte ihn Trautman.

Mike sah ihn verwirrt an. »Wie?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Trautman. Er wich seinem Blick aus, während er sprach. »Es gibt keinen Grund, aus dem wir uns alle in Gefahr begeben sollten. Du wirst hier bei Kanuat bleiben und warten, bis ich zurück bin.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, protestierte Mike.

»Eine sehr weise Entscheidung«, meinte Kanuat.

»Und eine, über die ich lange nachgedacht habe«, fügte Trautman hinzu. Er machte eine Handbewegung, mit der er Mike das Wort abschnitt, ehe er es überhaupt ergreifen konnte. »Es geht nicht nur darum, dass ich mich um dich sorge, Mike«, sagte er. »Jedenfalls ist das nicht der einzige Grund. Ich brauche dich als Rückendeckung.«

»Das ist doch nichts als eine Ausrede!«, behauptete Mike.

»Stimmt«, gestand Trautman ungerührt. »Aber es ist auch die Wahrheit. Ich weiß nicht, was mich dort drüben erwartet. Vielleicht nichts, vielleicht aber auch eine Gefahr, mit der ich nicht aus eigener Kraft fertig werde. In diesem Fall brauche ich dich.«

»Und wie soll ich Ihnen helfen, wenn ich nicht einmal in der Nähe bin?!« Mike war nahe daran, loszuschreien.

Trautman zog das Sprechgerät aus der Tasche. »Wir können damit in Verbindung bleiben«, sagte er. »Wenn mir irgendetwas zustoßen sollte, rufe ich dich. Und sollte mir etwas zustoßen, dann wird Kanuat dich zur Küste bringen. Von dort aus kannst du mit der NAUTILUS in Kontakt treten.«