»Aber das ist doch alles Unsinn!«, begehrte Mike auf. »Ich kann ebenso gut «
Er brach ab. Ein unheimliches, dumpfes Heulen und Dröhnen erklang und er brauchte nicht einmal eine Sekunde, um die Quelle dieses Geräuschs zu identifizieren: Es kam vom Berg der Geister. Schauderndsah er in diese Richtung und erlebte eine zweite, rätselhafte Überraschung.
Der Berg war keineswegs in der Dunkelheit versunken, wie die Gipfel und Grate des Massivs dahinter. Ganz im Gegenteil schien der gesamte Berg wie unter einem unheimlichen inneren Feuer zu glühen.
»Die Geister zürnen«, sagte Kanuat. »Sie mögen es nicht, wenn Menschen in ihr Reich eindringen.«
»Ich würde sagen, es ist eine Art Nordlicht«, sagte Trautman. »Vielleicht auch der Mond, der sich auf all diesen Kanten und Vorsprüngen bricht. Das Ding dort hat so viele Facetten und Winkel, dass er wie ein riesiger Kronleuchter wirkt.«
Weder Kanuat noch Mike antworteten darauf. Mike sah nur schweigend weiter über die Ebene. Trautmans Erklärung entsprach ja vielleicht sogar der Wahrheit, aber das nahm dem Anblick nichts von seiner unheimlichen Wirkung. Und es war schon gar keine Erklärung für das unheimliche Dröhnen und Wummern, das der Wind noch immer herantrug.
»Morgen zu dieser Zeit weiß ich, was da drüben los ist«, sagte Trautman.
»Wenn Sie dann noch am Leben sind«, fügte Kanuat hinzu.
Wider Erwarten schlief Mike in der Nacht ausgezeichnet und wurde erst wach, als ihn Kanuat unsanft rüttelte. Trautman war bereits damit beschäftigt, in aller Hast ihre Ausrüstungsgegenstände auf den Schlitten zu laden. Mike registrierte verschlafen, dass die Sonne gerade aufgegangen war.
»Lassen Sie das!«, sagte Kanuat, an Trautman gewandt. »Dafür ist keine Zeit!«
Er versetzte Mike einen unsanften Schubs, der ihn mehr auf den Schlitten hinauffallen als – klettern ließ, sprang selbst auf sein Gestell und gestikulierte Trautman ungeduldig zu, sich zu beeilen.
»Aber was ist denn überhaupt –?«, begann Mike. Der Rest seiner Frage ging in einem überraschten Keuchen unter, als Kanuat den Schlitten mit einem solchen Ruck losfahren ließ, dass sowohl er als auch Trautman zurückgeschleudert wurden. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich überhaupt auf dem Schlitten zu halten.
Mit Mühe rappelte er sich hoch, klammerte sich irgendwo fest und drehte sich vorsichtig herum. Ihr Lagerplatz und das Zelt waren schon ein gutes Stück zurückgefallen. Dahinter, sicher noch zwei oder drei Meilen entfernt, aber rasch näher kommend, stoben drei gewaltige Schneewolken empor. Mike konnte etwas Dunkles am Fuß jeder Wolke erkennen, mehr aber auch nicht.
»Vom Dorff«, sagte Trautman düster. »Das sind die Wagen, die wir in der Stadt gesehen haben! Verdammt! Ich hätte wissen müssen, dass sie nicht so einfach aufgeben!«
»Keine Sorge«, antwortete Kanuat grimmig. »Sie kriegen uns nicht. Eure Maschinen können es nicht mit einem guten Hundeschlitten aufnehmen!«
Mike hätte viel darum gegeben, den Optimismus mit dem Inuit teilen zu können. Die drei Wagen waren bereits ein gutes Stück näher gekommen. Und im Gegensatz zu Kanuats Huskys kannten diese Fahrzeuge keinerlei Erschöpfung oder Müdigkeit.
Immerhin schien Kanuat das auch zu begreifen, denn er schwang seine Peitsche noch heftiger und korrigierte den Kurs des Gespanns, sodass sie sich jetzt nicht mehr entlang der niedrigen Felsformation bewegten, in deren Schutz sie die Nacht verbracht hatten, sondern direkt hinaus auf die freie Eisfläche.
»Kanuat!«, schrie Mike. »Was tun Sie? Da draußen holen sie uns in ein paar Minuten ein!«
Kanuat antwortete nicht, sondern spornte seine Hunde zu noch größerem Tempo an und Trautman machte eine unwirsche Geste. »Lass ihn!«, sagte er. »Er wird schon wissen, was er tut.«
Mike konnte nur noch beten, dass es so war. Ihm selbst kam es jedenfalls nicht so vor. Auch die Wagen änderten ihren Kurs entsprechend, und kaum waren sie auf dem Eis, da legten sie gehörig an Tempo zu. Auf dem glatten Untergrund fanden ihre breiten Ketten genug Halt, um immer noch weiter zu beschleunigen. Sie holten so schnell auf, dass es nur noch Minuten dauern konnte, bis sie heran waren.
Und dann war einer der drei Wagen einfach verschwunden.
Die Wolke aus brodelndem Schnee, die seinen Weg markierte, hing noch eine Sekunde lang in der Luft und trieb dann langsam auseinander, aber der Wagen war buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt.
»Was ist passiert?«, keuchte Trautman. »Wo ist er geblieben?«
Kanuat lachte. »Das hier ist ein zugefrorener See«, antwortete er. »Das Eis taut nie ganz auf, aber es ist an manchen Stellen auch nicht sehr dick. Automobile sind schwer. Hundeschlitten sind leicht!«
Mike war erschüttert. Weder der Wagen noch die Männer, die darin gesessen waren, tauchten wieder auf. Und ihm war auch klar, dass die Männer in dem eisigen Wasser keine Überlebenschance hatten. Umgekehrt hätten sie vermutlich keine Hemmungen gehabt, Trautman und ihn umzubringen, aber das spielte keine Rolle. Sowohl Mike als auch allen anderen an Bord der NAUTILUS war ein Menschenleben heilig. Ganz gleich, wem es gehörte und was derjenige damit anfing.
Ein peitschender Knall riss ihn aus seinen Gedanken. Nicht sehr weit vor ihnen spritzte das Eis auf, aber es vergingen noch einmal einige Sekunden, bis Mike wirklich begriff, was geschah. Die Soldaten schossen auf sie!
Kanuat steuerte das Gespann nach rechts, links, wieder nach rechts und wieder nach links. Die Wagen hinter ihnen hüteten sich, die Manöver nachzuvollziehen, denn die Fahrer argwöhnten wahrscheinlich zu Recht, dass der Inuit sie auf dünnes Eis locken wollte. Sie waren auch langsamer geworden, denn das Schicksal ihrer Kameraden hatte den Fahrern drastisch genug vor Augen geführt, auf welch dünnem Eis sie sich bewegten – und das im wortwörtlichen Sinne.
Auch Mike war alles andere als wohl in seiner Haut. Vermutlich war es nur Einbildung, aber er glaubte ein immer deutlicheres Knirschen zu hören, das direkt aus dem Eis unter ihm drang. Außerdem kamen die Wagen noch immer näher, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. Und die Männer schossen auch noch immer auf sie. Auch wenn die Schützen praktisch keine Chance hatten, das wild hin und her schlingernde Gespann zu treffen, bestand doch immer noch die Gefahr eines Zufallstreffers.
Einer der beiden Wagen brach plötzlich auf einer Seite ins Eis ein. Eine gewaltige Kaskade weißer Splitter und glitzernder Wassertropfen stob hoch, doch gerade als Mike schon glaubte, dass auch dieser Wagen im Eis verschwinden müsse, grub sich das Fahrzeug auf wirbelnden Ketten selbst wieder aus und setzte die Verfolgung fort. Der zweite Wagen war währenddessen schon bedenklich nahe gekommen.
Und schließlich geschah das, was Mike insgeheim schon die ganze Zeit über befürchtet hatte: Wieder krachte ein Schuss, aber diesmal prallte die Kugel nicht harmlos vom Eis ab. Stattdessen heulte einer der Hunde schrill auf und brach in vollem Lauf zusammen und das brachte das gesamte Gespann durcheinander. Zwei, drei weitere Hunde stießen zusammen, Leinen zerrissen, Holz zerbrach, dann überschlug sich das gesamte Gespann, Mike, Trautman und Kanuat wurden in verschiedene Richtungen davongeschleudert.
Als sich Mikes Blick wieder klärte, bot das Eis einen Anblick der Verwüstung. Kanuats Schlitten war vollkommen zerstört. Die Hunde hatten sich losgerissen und rannten aufgeregt kläffend und zähnefletschend hin und her und Kanuat selbst kroch auf Händen und Knien über das Eis, um zu den verwundeten Tieren zu gelangen. Auch Trautman schien einigermaßen glimpflich davongekommen zu sein, denn er richtete sich nur ein paar Meter entfernt von Mike auf.