Nachdenklich sah er Kanuat an. Der Eskimo schien voll und ganz auf Astaroth konzentriert zu sein und erneut fiel Mike auf, wie vollkommen untypisch sich der Kater verhielt. Normalerweise betrachtete er es selbst als weit unter seiner Würde, sich wie ein Haustier streicheln zu lassen; ganz zu schweigen davon, sich auf dem Schoß eines Menschen zusammenzukuscheln.
Bist du etwa eifersüchtig? fragteAstaroth.
Nein,antwortete Mike.Ich wundere mich nur. Er ist sehr traurig,sagte Astaroth.Was er tut, hilft ihm, mit dem Schmerz über den Tod seines Freundes fertig zu werden.
Du meinst den Hund?
Er war viel mehr als ein Hund für ihn,antwortete Astaroth betont.Die Tiere sind seine Freunde und seine Familie.
Mike verspürte ein Gefühl ehrlichen Mitleids mit dem Inuit, und als hätte dieser seine Gedanken gelesen, hob er in diesem Moment den Blick und sah ihm direkt in die Augen. Ein angedeutetes, trauriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht und erlosch beinahe sofort wieder.
Er mag dich übrigens auch,fuhr Astaroth fort.Auch wenn ich ehrlich gesagt nicht ganz kapiere, warum. Vielleicht weil er glaubt, dass du seine Hunde gerne hast. Wenn du ihn fragst, dann wird er euch helfen.
»Wir können auf keinen Fall zurück in diesen See«, sagte Juan entschieden. »Die Situation vorhin war gefährlicher, als euch vielleicht bewusst war. Ich bin nicht sicher, ob die NAUTILUS dieser Belastung noch einmal standhält. Dass Berghoff sich zurückgezogen hat, war pures Glück. Hätte die >U37< uns angegriffen, hätte sie eine gute Chance gehabt, uns zu besiegen.«
»Also bleibt uns nur der Weg über das Eis«, seufzte Trautman. »Nicht dass ich mich darauf freue, aber ich sehe keine andere Möglichkeit ...« Er sah Kanuat an. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, Sie darum zu bitten, aber besitzen Sie noch einen zweiten Schlitten?«
»Sie werden uns erneut jagen«, sagte Kanuat, »und vielleicht noch einen Hund töten.«
»Nicht, wenn sie nicht wissen, dass wir noch da sind«, antwortete Trautman. »Die NAUTILUS wird hinaus aufs offene Meer fahren und ein bisschen Haschmich mit Hansens PRINZ FERDINAND spielen. Das lenkt Vom Dorff bestimmt genug ab. Aber es ist Ihre Entscheidung. Ich will nicht, dass Sie noch einen Ihrer Freunde verlieren.«
»Ich werde sie alle verlieren, wenn wir die Deutschen nicht verjagen«, sagte Kanuat leise.
»Das werden Sie nicht«, sagte Mike bestimmt. »Wir werden Ihnen helfen.«
»Wie wollt ihr in die Stadt kommen?«, erkundigte sich Kanuat.
»So wie das erste Mal.« Trautman deutete auf Singh. »Singh und ich werden Vom Dorff einen kleinen Besuch abstatten und für ein wenig Verwirrung sorgen. Genug jedenfalls, um dir Gelegenheit zu bieten, in dein Haus zu gelangen und den zweiten Schlitten zu holen.«
»Das ist gefährlich.«
»Alles, was wir hier tun, ist gefährlich«, sagte Trautman. »Außerdem haben wir einen guten Grund, Vom Dorff zu besuchen. Er hat etwas, was uns gehört. Wir würden wirklich ungern auf die beiden Taucheranzüge verzichten – ganz davon abgesehen, dass sie den Deutschen nicht in die Hände fallen dürfen. Und drittens müssen wir ihn doch schließlich davon überzeugen, dass wir auch wirklich von hier verschwinden, nicht wahr?«
»Vom Dorff ist nicht dumm«, gab Kanuat zu bedenken. »Er ist schlecht, aber nicht dumm.«
»Ich weiß«, sagte Trautman. Seltsamerweise lächelte er jedoch dabei. »Aber das macht nichts. Einen intelligenten Gegner zu überlisten ist manchmal leichter als einen dummen.«
»Wann brechen wir auf?«, fragte Mike.
Trautman sah ihn nachdenklich an und schüttelte den Kopf. »Wir brechen überhaupt nicht auf«, sagte er betont. »Wirf einmal einen Blick in den Spiegel. Du siehst aus wie der Tod auf Latschen. Du wirst dich jetzt gründlich ausschlafen. Singh und ich besuchen heute Abend Vom Dorff. Danach sehen wir weiter.«
Genau so geschah es. Mike tat das, worauf er sich schon die ganze Zeit über gefreut hatte, und nahm eine lange und sehr heiße Dusche und aus der Stunde, die er sich anschließend aufs Ohr legen wollte, wurden deren etliche. Er erwachte erst, als ein spürbares Zittern durch den Rumpf der NAUTILUS ging und die Motoren wieder zu ihrem monotonen Summen erwachten.
Verschlafen setzte er sich auf. Ein müdes Blinzeln auf die Uhr zeigte ihm, dass er viele Stunden im Bett gelegen hatte. Draußen musste es mittlerweile längst wieder dunkel geworden sein. Trotzdem war er noch immer so müde, dass er sich auf der Stelle wieder hätte zurücksinken lassen und weiterschlafen können.
Er hatte jedoch keine Zeit dazu. Irgendetwas stimmte nicht. Die metallenen Planken unter seinen Füßen zitterten zu heftig und das Motorengeräusch klang unregelmäßig und stotternd. Mike zog sich an, verließ die Kabine und schlurfte in Richtung Salon, wobei er ununterbrochen gähnte. Trotz der langen, heißen Dusche vom vergangenen Abend fror er noch immer. Er würde mit Trautman und den anderen reden müssen, damit ihre nächsten Abenteuer wieder in der Karibik stattfanden.
Abgesehen von Ben, der vermutlich in der Kombüse war und einen neuen Mordanschlag vorbereitete, fand er die komplette Besatzung der NAUTILUS im Salon. Trautman und Singh trugen dunkle, eng anliegende Kleidung und hatten beide nasse Haare und Trautman machte ein ziemlich niedergeschlagenes Gesicht. Wie es aussah, hatte Mike das Spannendste verpasst. Aber nicht unbedingt das Erfolgreichste.
»Was ist passiert?«, fragte er neugierig.
»Hallo, Mike.« Trautman nickte ihm flüchtig zu. »Wir haben Kanuats Schlitten geholt und die Hunde.«
»Sie sind hier?«, fragte Mike überrascht. »An Bord?«
»Im vorderen Laderaum«, bestätigte Trautman. »Es war gar nicht so einfach, sie an Bord zu bekommen. Offenbar haben nicht nur die Inuit etwas gegen moderne Technik, sondern auch ihre Hunde.«
»Warum machen Sie dann so ein miesepetriges Gesicht?«, fragte Mike. Er setzte sich. Etwas klapperte, als er die Papiere auf dem Tisch zur Seite schob, um die Ellbogen aufzustützen. Unter dem Wust von Karten und Notizzetteln kam ein lackiertes, mit kunstvollen Buchstaben und Ziffern verziertes Brett zum Vorschein, aber Mike beachtete es in diesem Moment kaum.
»Unsere Anzüge.« Trautman seufzte tief. »Wir haben Vom Dorffs Haus buchstäblich auf den Kopf gestellt. Der arme Kerl wird eine Woche brauchen, um wieder halbwegs aufzuräumen. Die Anzüge waren nicht da. Berghoff oder Hansen müssen sie mitgenommen haben.«
Das war ein schwerer Schlag. Die beiden Taucheranzüge waren unbeschreiblich kostbar. Es gab an Bord der NAUTILUS zwar noch mehr der plump aussehenden Anzüge, die es ihren Trägern ermöglichten, sich selbst in mehreren tausend Metern Wassertiefe frei zu bewegen, aber es war unmöglich, Ersatz für die beiden zu beschaffen, die die Deutschen erbeutet hatten. Die Fabrik, in der sie hergestellt worden waren, war vor zehntausend Jahren in Schutt und Asche gesunken.
»Ein Grund mehr, zu diesem Berg zu gehen und nachzusehen, was sie dort treiben«, sagte Mike düster. »Ich nehme an, wir sind auf dem Weg dorthin?«
»Ja. Und wir haben wenig Zeit. Vom Dorff hat ja bereits bewiesen, dass die NAUTILUS ihm nicht ganz unbekannt ist. Wenn wir zu spät draußen vor der Küste auftauchen, könnte er Verdacht schöpfen.«
»Wir bringen euch so nahe wie möglich an den Berg heran«, fügte Singh hinzu. »Aber viel näher als gestern wird es kaum sein.«
Mike begann nachdenklich mit dem Brett zu spielen, das er unter den Papieren gefunden hatte. In einem sanft geschwungenen Viertelkreis im oberen Drittel des Brettes waren die verschnörkelten Buchstaben des Alphabets aufgereiht, darunter die Ziffern 0 bis 9. Zu beiden Seiten davon und etwas größer standen die Worte »Ja« und »Nein«.