Das Stück Holz war ein Ouija-Brett, ein – nach Mikes Überzeugung – albernes Spielzeug, das bei Seancen und Geisterbeschwörungen benutzt wurde. Mittels eines kleineren, angespitzten Holzstückchens, mit dem man auf die entsprechenden Buchstaben deuten konnte, vermochte man mit diesem Brett angeblich Botschaften aus dem Totenreich zu empfangen. Überflüssig zu erklären, was Mike davon hielt. Er fragte sich nur, was dieses Brett überhaupt auf dem Schiff zu suchen hatte. Vielleicht hatte Kanuat es mitgebracht. Zuzutrauen war es ihm, so abergläubisch wie der Inuit war. Mike verjagte den Gedanken und stand auf.
»Dann ziehe ich mich vielleicht besser um«, sagte er.
»Wozu?«, fragte Trautman. »Ich gehe allein. Es ist viel zu gefährlich.«
»Das Thema hatten wir doch schon einmal, oder?«, seufzte Mike.
»Ja – und ich habe mich schon einmal falsch entschieden«, antwortete Trautman energisch. »Du wärest um ein Haar ums Leben gekommen. Das Risiko werde ich nicht noch einmal eingehen. Du bleibst hier und damit basta.«
Wenn Trautman diesen ganz bestimmten Ton anschlug, das wusste Mike, dann hatte Widerspruch absolut keinen Zweck. Mike versuchte es auch erst gar nicht mehr. Stattdessen wandte er sich kommentarlos um, verließ den Salon und ging in seine Kabine, um sich umzuziehen. Keine fünf Minuten später betrat er den vorderen Laderaum und traf auf Kanuat und seine Hunde.
Und auf Serena.
»Dachte ich es mir«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich nehme an, du bist in voller Wintermontur hier erschienen, um dich von Trautman zu verabschieden.«
Mike überhörte den beißenden Spott in Serenas Stimme ganz bewusst. »Ich denke nicht daran, Trautman allein gehen zu lassen«, sagte er ernst. »Er verschweigt uns etwas, Serena. Ich verwette meine rechte Hand, dass Trautman weiß, was ihn auf diesem angeblichen Berg der Götter erwartet.«
»Selbst wenn es so ist«, antwortete Serena. »Dann sollten wir seinen Wunsch respektieren. Wenn er nicht darüber reden will, ist das seine Sache.«
»Das ist es nicht«, widersprach Mike. »Nicht, wenn er sich damit in Gefahr begibt. Er weiß, was ihn dort erwartet. Du hast seinen Blick nicht gesehen, als er über die verschollene Expedition gesprochen hat.
Aber ich. Glaub mir: Trautman hat furchtbare Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich weiß, dass ich ihn ganz bestimmt nicht allein lassen werde. Außerdem braucht ihr mich dort draußen. Ich bin der Einzige, der mit Astaroth Kontakt aufnehmen kann. Vielleicht brauchen wir ja dringend eure Hilfe.«
»Das ist nicht fair«, sagte Serena.
»Stimmt.« Mike deutete auf den Schlitten. »Hilfst du mir jetzt oder verpetzt du mich?«
»Du solltest diese Entscheidung nicht von ihr verlangen«, mischte sich Kanuat ein. Er trat an seinen Schlitten und schlug eine der Felldecken zurück, die darauf lagen. »Du verlangst, dass sie einen Freund hintergeht. Das ist wirklich nicht fair.«
»Aber doch nur, um ihn zu retten!«
»Ich sage doch, es ist nicht fair.« Kanuat zeigte Mike eines seiner seltenen Lächeln und machte gleichzeitig eine einladende Geste. »Trautman ist nichtmeinFreund. Und er wird mich nicht fragen, was auf dem Gespann ist, sodass ich ihn nicht belügen muss.«
»Das ist Haarspalterei«, maulte Serena. »Ich gehe jetzt, bevor ihr beiden noch auf die Idee kommt, eine Sprache zu erfinden, in der es das Wort Lüge nicht gibt. Und lass dir ja nicht einfallen, dich umbringen zu lassen oder so was. Wenn du zurückkommst und tot bist, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
Und damit drehte sie sich um und rannte regelrecht aus dem Laderaum. Kanuat blickte ihr kopfschüttelnd nach, setzte dazu an, etwas zu sagen, und deutete dann nur wortlos auf den Schlitten.
Mike gehorchte ebenso wortlos. Er quetschte sich zwischen die fest zusammengeschnürten Bündel und Säcke, und Kanuat breitete die Decke über ihn aus. Es wurde vollkommen dunkel, aber Mike widerstand der Versuchung, die Decke ein kleines Stück anzuheben, um hinaussehen zu können. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Trautman kam. Er hatte scharfe Augen, denen nicht die geringste Kleinigkeit entging.
Sehr lange musste er sich auch nicht mehr gedulden. Es mochten allerhöchstens fünf Minuten vergangen sein, als er
Trautmans Stimme und die Stimmen mehrerer anderer Personen
hörte.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Trautman. »Ben, Juan – ihr helft Kanuat und mir den Schlitten auszuladen. Und danach verschwindet ihr wie der Blitz. Ich habe Singh instruiert, auf der Stelle zu tauchen. Ihr solltet euch besser beeilen, wenn ihr keine nassen Füße bekommen wollt!«
Für eine ganze Weile hörte Mike nichts außer einem anhaltenden Rumpeln und Klappern, dann wurde es plötzlich sehr kalt und gleich darauf konnte Mike spüren, wie der Schlitten hochgehoben wurde.
»Verdammt, ist das Ding schwer!«, schimpfte Ben. »Was nehmt ihr denn da mit? Betonbrocken?«
»Essen für drei Tage«, antwortete Kanuats Stimme aus einer anderen Richtung. »Und Fleisch für die Hunde.«
Der Schlitten schaukelte immer heftiger, dann wurde er mit einem so harten Ruck aufgestellt, dass Mike
die Zähne schmerzhaft aufeinander klapperten. »Geschafft!«, keuchte Ben. »Ein bisschen Hilfe wäre nicht schlecht gewesen. Das Ding wiegt ja eine Tonne! Wo ist überhaupt Mike? Immer wenn es Arbeit gibt, ist der Herr nicht da.« Er lachte. »Aber Serena ist ja auch nicht zu sehen. Wahrscheinlich turteln die beiden wieder.«
»Halt die Klappe«, sagte Juan in gutmütigem Ton. »Du bist ja nur eifersüchtig.« »Auf Mike? Pah!« »Hört auf«, sagte Trautman streng. »Macht, dass ihr an Bord kommt. Der Kurs ist festgelegt. Singh soll
zwei Tage vor der
Küste kreuzen. Wenn ihr dann nichts von mir hört, wartet nicht auf mich.« »Wie bitte?«, fragte Ben. »Ihr habt mich verstanden«, antwortete Trautman grob. »Geht an Bord. Singh hat seine Instruktionen.« »Aber –«»Verschwindet!«Ben maulte noch einen Augenblick herum wahrscheinlich schon aus Prinzip –, trollte sich aber dann. Nur Augenblicke später konnte Mike hören, wie die Motoren der NAUTILUS wieder anliefen. Das Eis, auf dem sie standen, begann zu zittern.
»Helfen Sie mir die Hunde anzuspannen«, bat Kanuat. »Wir müssen an einen sicheren Ort. Das Eis hier ist sehr dünn.«
Mike überlegte einen Moment, ob er aus seinem Versteck herauskriechen sollte. Seine Arme und Beine waren von der unbequemen Position, in der er dalag, schon ganz taub und er bekam unter der schweren Decke kaum noch Luft. Aber wahrscheinlich war es besser, wenn er noch eine Weile in Deckung blieb; wenigstens bis die NAUTILUS nicht mehr in der Nähe war. Trautman brachte es fertig und rief das Schiff noch einmal zurück. Mike hatte nicht vergessen, was er gerade gesagt hatte:Wenn ihr in zwei Tagen nichts von mir gehört habt, wartet nicht mehr auf mich.Trautman rechnete nicht damit zurückzukommen, da war er ganz sicher.
Er konnte hören, wie Trautman und Kanuat die Hunde einschirrten, und gerade, als er sein Versteckspiel aufgeben wollte, zog Kanuat mit einem Ruck die Decke zurück und sagte: »Genug gefaulenzt. Steh auf und hilf uns ein bisschen.«
Trautman riss ungläubig die Augen auf, dann verfinsterte sich sein Gesicht vor Zorn. »Was bedeutet das? «, fragte er. »Das ist –« »Meine Schuld«, unterbrach ihn Kanuat. »Es war meine Idee, ihn mitzunehmen.«
»Nein«, sagte Mike. »Es war meine Idee.«
»Das dachte ich mir«, sagte Trautman. »So respektiert ihr also meine Wünsche.«