»Wir lassen unsere Freunde nun einmal nicht im Stich.«
Trautman schnaubte. »Du hast ja keine Ahnung, wovon du überhaupt redest«, sagte er. »Ich hätte große Lust, die NAUTILUS zurückzurufen und dich mit einem Tritt in den Hintern wieder an Bord zu befördern.«
»Aber leider funktionieren die Sprechgeräte immer noch nicht«, antwortete Mike. »Und außerdem haben wir für so etwas keine Zeit. Wenn das alles hier vorbei ist, können Sie mich meinetwegen zu sechs Wochen Dreckschrubben verdonnern oder mir zwei Jahre Küchendienst aufbrummen. Aber jetzt verschwenden wir nur kostbare Zeit.«
»Leider hast du damit sogar Recht«, grollte Trautman. »Aber bilde dir jetzt bloß nicht ein, dass über die Angelegenheit schon das letzte Wort gesprochen worden ist. Mach Platz!«
Er schubste Mike beiseite, um zu ihm auf den Schlitten zu steigen. Kanuat nahm seinen Platz im Heck des Gespanns ein und ließ die Peitsche knallen. Der Hundeschlitten setzte sich in Bewegung.
Sie befanden sich wieder auf dem zugefrorenen See, allerdings ein gutes Stück weiter vom Berg der Geister entfernt als am vergangenen Morgen. Mike schätzte, dass zwischen ihnen und dem bizarren Eisgebilde mindestens fünfundzwanzig Kilometer lagen. Er wusste nicht genau, wie spät es war, aber vermutlich würden sie den Großteil der Nacht brauchen, um den erstarrten See zu überqueren.
Trautman war nicht in der Stimmung für ein Gespräch und Kanuat konzentrierte sich ganz auf die Steuerung des Schlittens; eine Aufgabe, die nicht so einfach war, wie es im ersten Moment schien. Das Eis war an manchen Stellen gefährlich dünn. Mike hörte mehr als einmal ein gefährliches Knirschen und Knistern aus der Eisfläche dringen, über die die Hunde dahinschossen, und Kanuat schlug keinen direkten Kurs ein, sondern ein scheinbar willkürliches Hin und Her.
Eine gute halbe Stunde fuhren sie auf diese Weise schweigend dahin, dann hörten sie mal wieder dieses unheimliche Dröhnen und Poltern, das sie schon in ihrer ersten Nacht auf dem Eis aus dem Berg der Götter vernommen hatten.
Diesmal hörte es jedoch nicht auf, sondern nahm allmählich an Lautstärke zu und auch seine Frequenz wurde schneller. Es war jetzt fast ein Stampfen, ein noch immer unheimlicher Laut, der Mike aber trotzdem auf sonderbare Weise bekannt vorkam. Es klang ähnlich wie das Geräusch riesiger, geheimnisvoller Maschinen, die irgendwo tief unter der Erde auf Hochtouren liefen.
Dann ... geschah etwas Seltsames. Mike konnte über die große Entfernung nicht genau sagen, was, aber für einige Augenblicke hatte er das verrückte Gefühl, dass der gesamte Berg sich ...bewegte.
Plötzlich drang ein unheimliches, intensives blaues Licht aus
dem Berg. In der Nacht erschien es doppelt grell, sodass Mike für eine Sekunde geblendet die Augen schloss und schützend beide Hände vor das Gesicht hob.
»Was ... ist das?«, murmelte Trautman erschrocken. Mike nahm die Hände herunter und sah zuerst ihn an, ehe er wieder zu dem Berg hinüberblickte. Das kalte, blauweiße Licht spiegelte sich auf Trautmans Gesicht und ließ jede noch so winzige Linie, jede Narbe und jede Falte überdeutlich hervortreten. Es sah regelrecht gespenstisch aus.
Das Licht, das aus dem Berg strahlte, war jetzt nicht mehr ganz so gleißend. Trotzdem sah der Berg aus, als hätte er sich in einen riesigen, lodernden Stern verwandelt. Das Eis glühte von innen heraus in kaltem Feuer.
»Was ist das?«, fragte Trautman noch einmal.
»Vor zwei Tagen hätte ich noch gesagt, der Zorn der Geister«, antwortete Kanuat. »Jetzt bin ich nicht mehr sicher.«
Mike sah den Inuit irritiert an. Die Geschehnisse der letzten beiden Minuten hätten beinahe dazu geführt, dasseranfing an Gespenster zu glauben. Auf Kanuat schienen sie genau die gegenteilige Wirkung auszuüben. Mike verstand nicht, warum.
Der unheimliche Effekt hielt noch einige Minuten an, dann begann das Licht allmählich zu verblassen und auch die beunruhigenden Geräusche nahmen rasch an Intensität ab. Nicht einmal zehn Minuten, nachdem es begonnen hatte, war alles vorbei. Der Berg war wieder in der Nacht verschwunden und die Dunkelheit kam Mike jetzt doppelt so tief vor.
»Wie oft passiert das?«, fragte er leise. »Das weiß niemand«, antwortete Kanuat. »Keiner von uns hat sich dem Berg jemals so weit genähert.« »Aber du tust es jetzt«, sagte Trautman. »Warum? Um uns zu helfen?«
»Euch?« Kanuat schüttelte heftig den Kopf. »Euer Streit interessiert mich nicht. Er geht mich nichts an. Es kann mir gleich sein, ob ihr ihn gewinnt oder verliert, denn gleich, welche Seite nun siegt, ihr werdet ihn an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit doch fortsetzen. Ich will meinem Volk helfen. Vielleicht gehen die Deutschen fort, wenn ihr Geheimnis keines mehr ist.«
»Dann glaubst du auch nicht mehr, dass es sich um das Wirken von Geistern handelt?«, fragte Trautman. »Ihr nennt es Wissenschaft und wir Magie«, antwortete Kanuat. »Wo ist der Unterschied?« »Vielleicht hast du Recht«, murmelte Trautman. »Vielleicht ist es gar keiner.«
Kanuat lachte. »In fünf Stunden geht die Sonne auf«, sagte er. »Dann werden wir die Antwort wissen.«
Abweichend von Kanuats Schätzung erreichten sie den Berg der Geister eine Stunde vor Sonnenaufgang, sodass sie notgedrungen eine Zwangspause einlegen mussten, ehe sie mit seiner Erforschung beginnen konnten.
Keiner von ihnen war sehr böse darüber. Kanuat spannte die Hunde aus, die sich sofort auf dem Eis zusammenrollten und einschliefen, und auch der Inuit selbst streckte sich auf dem blanken Boden aus und schloss die Augen. Mike beneidete ihn fast darum. Auch er spürte jede Meile, die sie zurückgelegt
hatten, in den Knochen, aber er hätte niemals einfach die Augen
zumachen und schlafen können; nicht in unmittelbarer Nähe
dieses Berges.
Trautman schien es ebenso zu ergehen. Da ihnen das Eis zu kalt war, hatten sie sich nebeneinander auf die Kante des Schlittens gesetzt und die Beine ausgestreckt, und obwohl keiner von ihnen sprach, reichte ein einziger Blick in Trautmans Gesicht, um Mike klarzumachen, dass ihn die Nähe des Berges mit derselben Furcht erfüllte wie ihn.
Dabei sah er aus der Nähe betrachtet fast wie ein ganz normaler Eisberg aus. Seine bizarre Form war nur aus großer Entfernung zu erkennen und das geheimnisvolle Leuchten hatte ebenso aufgehört wie die unheimlichen Laute.
Trotzdem ... Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte. Es war nichts, was er hätte hören oder sehen können, aber etwas, das fast körperlich greifbar war. Es war, als ob in diesem Eis noch etwas wäre, etwas, was hinaus wollte. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass es nichts Gutes war.
»Du spürst es auch, nicht wahr?«, fragte Trautman nach einer Weile.
Mike nickte. »Ja ... Meinen Sie nicht, dass es jetzt allmählich Zeit wäre, mir zu verraten, warum wir wirklich hier sind?«
»Um nach den Mitgliedern der verschollenen Expedition zu suchen.«
»Und das ist wirklich alles?«, fragte Mike.
»Ja«, antwortete Trautman kurz angebunden. Er stand auf, ging ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Trotz der herrschenden Dunkelheit konnte Mike sehen, wie nervös er war. Er wiederholte seine Frage nicht, sondern erhob sich ebenfalls, um an Trautmans Seite zu treten.
Als er ihn fast erreicht hatte, glomm irgendwo links von ihnen ein mildes gelbes Licht auf. Trautman hob erschrocken die Hand und legte den Zeigefinger der anderen über die Lippen. Mike erstarrte für einen Moment mitten im Schritt, aber er registrierte trotzdem, dass Kanuat hinter ihnen die Augen aufschlug und sich rasch und lautlos erhob. Offenbar hatte er doch nicht so tief geschlafen, wie es den Anschein gehabt hatte.