Mike schrie auf, warf sich in einer verzweifelten Bewegung zurück und griff nach irgendeinem Halt. Kanuat seinerseits griff mit beiden Händen zu, bekam im buchstäblich allerletzten Moment Mikes Handgelenk zu fassen – und machte die Katastrophe damit komplett.
Kanuat war alles andere als ein Schwächling, aber auf dem spiegelglatten Boden fand er einfach nicht den Halt, der notwendig gewesen wäre, um Mike aufzufangen. Statt seinen Sturz zu bremsen, wurde er ebenfalls aus dem Gleichgewicht gerissen und stürzte zusammen mit ihm hilflos in die Tiefe.
Der Aufprall hätte zweifellos ihr Ende bedeutet, wäre der Schacht bis zum Ende so senkrecht verlaufen wie oben. Seine Neigung nahm jedoch mehr und mehr ab, sodass sie bald mehr durch die Röhre schlitterten als stürzten, und am Ende gab es nur noch eine sanfte Neigung. Der Schacht endete in weniger als einem halben Meter Höhe in einer senkrechten Wand aus Stein. Statt des tödlichen Aufpralls, auf den Mike gefasst war, plumpsten sie nur unsanft zu Boden. Trotzdem blieb Mike fast eine Minute lang reglos liegen und lauschte in sich hinein. Es dauerte eine Weile, bis er sich eingestand, noch am Leben zu sein.
Vorsichtig öffnete er die Augen, richtete sich behutsam auf und sah sich um. Im ersten Moment war er dann doch nicht mehr sicher, noch am Leben zu sein; oder doch zumindest nicht mehr bei klarem Verstand. Was er sah, war so unglaublich, dass es ebenso gut aus einem Traum hätte stammen können.
Sie befanden sich in einer riesigen, ganz aus bläulich schimmerndem Eis bestehenden Höhle, deren Decke an ihrem höchsten Punkt sicher hundert oder mehr Meter über ihnen war.
Und diese Höhle war keineswegs leer.
Rings um sie herum erhoben sich mächtige, uralte Gebäude aus gewaltigen Steinquadern. Ihre Architektur war unheimlich, durch und durch fremd und bizarr und doch auf sonderbare Weise vertraut. Viele der Gebäude glichen wuchtigen Steinpyramiden, aber es gab auch Türme, gewaltige, quadratische Bauten und Gebäude von einer Form, die er nicht einmal in Worte fassen konnte, geschweige denn schon einmal gesehen hatte. Und trotzdem hatte er das unheimliche Gefühl,
dass ihm diese Stadt nicht fremd war.
»Bei den Geistern des Nordwinds«, flüsterte Kanuat erschüttert. »Was ist das?«
Statt zu antworten – was er ohnehin nicht wirklich gekonnt hätte – stand Mike ganz auf und sah sich ein zweites Mal um. Die riesigen, rechteckigen Steinquadern, aus denen die Gebäude bestanden, mussten jeder für sich mindestens eine Tonne wiegen und waren von unheimlicher, dunkelgrüner Farbe. Früher einmal mussten ihre Oberflächen kunstvoll gearbeitete Reliefs und Bilder aufgewiesen haben, aber die Zeit hatte die Schriftzeichen und Verzierungen nahezu unkenntlich gemacht.
Die Stadt musste unvorstellbar alt sein. Viele Gebäude lagen trotz ihrer massiven Bauweise in Trümmern, viele andere waren halb vom Eis eingeschlossen oder ragten gar nur noch zu kleinen Teilen aus den Wänden. Mehr als einmal konnte Mike nicht mit Sicherheit sagen, ob er nun Stein oder Eis betrachtete.
Das vielleicht Unheimlichste überhaupt aber war, dass diese Stadt keineswegs leer und verlassen war, sondern ganz offensichtlich Bewohner hatte. Ein Teil des Lichtes, das die im ewigen Eis eingeschlossene Stadt erhellte, kam direkt aus den Wänden, die zwar dick waren, das Sonnenlicht aber doch nicht vollkommen verscheuchten. In zahlreichen Gebäuden brannte aber auch Licht. Außerdem war es erstaunlich warm. Mike hatte schon nach einigen Augenblicken das Bedürfnis, seine Jacke auszuziehen.
»Unglaublich«, murmelte Kanuat. »Das ist ... Zauberei. Kein Mensch hat so etwas je gesehen!«
»Das stimmt nicht«, antwortete Mike. Plötzlich wusste er es.
Als hätten seine eigenen Worte die Erinnerungen heraufbeschworen, wusste er jetzt, wo er diese Gebäude schon einmal gesehen hatte. Sie waren nicht annähernd so gut erhalten gewesen, sondern beinahe nur noch Trümmer, und es war sehr lange her, aber es war dieselbe fremdartige Architektur.
»Atlantis«, sagte er.
Kanuat sah ihn fragend an. »Was soll das sein?«
»Das ist eine Stadt der Atlanter«, sagte Mike. »Genau so sah es auf der Insel aus, auf der wir die NAUTILUS gefunden haben. Würdest du glauben, dass diese Stadt mindestens zehntausend Jahre alt ist? «
»Eine Stadt des Alten Volkes?«
»Ihr wisst davon?«, fragte Mike überrascht.
»So wie ihr auch«, antwortete Kanuat. »Jedes Volk kennt die Legende von denen, die vor uns da waren. Auch eure.« Er machte eine Geste, als Mike etwas sagen wollte. »Jetzt ist nicht der Moment für alte Geschichten. Jemand kommt.«
Mike verschwendete keine Zeit damit, sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen, sondern lief auf das nächste Gebäude zu und huschte durch die Tür. Kanuat folgte ihm dichtauf und sie pressten sich nebeneinander an die Wand. Mike legte den Zeigefinger über die Lippen.
Das Innere des Gebäudes bot einen kaum weniger bizarren Anblick als sein Äußeres. Sie befanden sich in einem sehr großen, asymmetrisch geformten Raum ohne Decke, in dem gleich mehrere Treppen in die Höhe führten. Oder auch nicht. Jede dieser Treppen hatte unterschiedlich große und breite Stufen und zumindest eine davon führte in eine Richtung, die er einfach nicht benennen konnte. Mike sah allerdings auch nicht sehr aufmerksam hin. Er hatte mehr als einmal erlebt, was die atlantische Architektur einem menschlichen Geist antun konnte, wenn man den Fehler beging, sie aufmerksam zu studieren.
Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf das, was sich draußen vor dem Gebäude abspielte. Er hörte Stimmen und näher kommende Schritte. Einige Männer unterhielten sich auf Deutsch. Nach einigen weiteren Augenblicken konnte sie diese dann auch sehen.
Er war kein bisschen überrascht, als er erkannte, dass es sich um deutsche Marinesoldaten handelte. Die Männer gingen ohne Hast nebeneinander her und kamen ihrem Versteck dabei so nahe, dass Mike sogar den Schriftzug auf ihren Schirmmützen erkennen konnte. Er lautete: »U37«.
Er wartete, bis die beiden Männer wieder außer Hörweite waren, dann wandte er sich mit grimmigem Gesichtsausdruck an Kanuat. »Da haben Sie Ihre Geister«, sagte er. »Die Männer kommen von Berghoffs Schiff. Wahrscheinlich haben sie diese Stadt schon vor einer ganzen Weile entdeckt. Kein Wunder, dass sie sich solche Mühe geben, dieses Geheimnis um jeden Preis zu bewahren!«
»Warum?«, fragte Kanuat.
»Sie haben die NAUTILUS doch gesehen«, antwortete Mike. »Die alten Atlanter waren technisch viel weiter als wir! Unvorstellbar, wenn sie hier auch so etwas gefunden hätten!«
»Wer sagt dir, dass sie es nicht haben?«, fragte Kanuat.
»Die Tatsache, dass wir noch am Leben sind«, antwortete Mike. »Kommen Sie! Die Kerle sind weg! Vielleicht finden wir
ja heraus, wo sie Trautman hingebracht haben.«
Nach einem letzten, sichernden Blick in die Runde verließen sie ihr Versteck und bewegten sich vorsichtig auf das Zentrum der Stadt zu; genauer gesagt das, was Mike dafür hielt.
Zuerst trafen sie auf keine weiteren Menschen, aber ihre Spuren waren unübersehbar. Hier und da lagen Papierfetzen, leere Konservendosen oder achtlos liegen gelassene Ausrüstungsteile, leere Zigarettenschachteln und abgebrannte Streichhölzer, einmal sogar ein Paar Schuhe, das jemand einfach in einem Winkel abgestellt und offensichtlich vergessen hatte. Mike fand den Anblick aber weniger komisch, als dass er ihn regelrecht wütend machte. Diese Stadt hatte zehntausend Jahre unberührt im Eis gelegen und sie hatte diese unendlich lange Zeit nahezu schadlos überstanden. Und wie es schien, zu dem einzigen Zweck, den deutschen Soldaten als Müllkippe zu dienen.