Was er für das Stadtzentrum gehalten hatte, das mochte es früher auch einmal gewesen sein. Nun aber konzentrierten sich die meisten Lichter und die Quelle der größten Aktivitäten auf einen Bereich am anderen Ende der Stadt. Der Weg dorthin betrug sicher eine Viertelstunde und sie würden schon verdammt viel Glück brauchen, um nicht einem deutschen Soldaten in die Arme zu laufen oder auf irgendeine andere Weise aufzufallen. Trotzdem zögerte Mike nicht einmal eine Sekunde. Sie mussten irgendwie hier heraus und sie mussten Trautman finden und beides war nur möglich, wenn sie sich ersteinmal einen Überblick verschafften, wo sie waren und mit wem sie es überhaupt zu tun hatten. Eines wurde Mike schon bald klar: In dieser Stadt hielt sich nicht nur die Besatzung von Berghoffs »U37« auf. Der Ort musste einmal Platz für Tausende von Menschen geboten haben. Jetzt standen zwar die meisten Gebäude leer, aber Mike schätzte, dass immer noch mindestens zwei-bis dreihundert Menschen hier lebten; eine Menge Soldaten, aber auch viele Zivilisten. Einige davon waren mit Dingen beschäftigt, die Mike zwar nicht ganz verstand, aber einen irgendwie wissenschaftlichen Eindruck machten. Offenbar nutzte das Kaiserreich diese Station nichtnurzu militärischen Zwecken.
Aber ein großer Trost war das nicht.
Im Großen und Ganzen durchquerten sie die Stadt unbehelligt. Einige Male mussten sie sich verstecken, um nicht entdeckt zu werden. Aber schließlich hatten sie die im Eis eingeschlossene Stadt zur Gänze durchquert.
Mike war kein bisschen überrascht, als sie auf der anderen Seite auf einen künstlich angelegten Hafen stießen; ein lang gestrecktes, rechteckiges Becken, das vor einer Wand aus schimmerndem Eis endete. Oder etwas, was wenigstens wie Eis aussah.
Was ihn hingegen wie ein Faustschlag traf und ihn für einen Moment selbst das Atmen vergessen ließ, das war der Anblick der beiden Schiffe, die darin lagen. Eines davon war die »U37«, Berghoffs Unterseeboot, das sie schon im Hafen von Sadsbergen gesehen hatten. Das Schiff ragte jetzt ein gutes Stück weiter aus dem Wasser, sodass Mike seine erstaunliche Größe und die wuchtige Form deutlicher erkennen konnte. Das Schiff war viel größer, als er bisher geglaubt hatte.
Trotzdem wirkte es wie ein Zwerg gegen den graugrünen, bizarr geformten Koloss, der unmittelbar daneben aus dem Wasser ragte, riesig, glotzäugig und von einem gezackten Stahlkamm gekrönt, der von dem gefährlichen Rammsporn am Bug bis zu der an einen Haifischschwanz erinnernden Heckflosse reichte.
»Großer Gott!«, flüsterte Mike. »Aber das ist doch... unmöglich!« »Das ist euer Schiff«, sagte Kanuat verwirrt. Mike starrte das gigantische U-Boot aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Gedanken rasten,
überschlugen sich und drehten sich im Kreis, ohne zu einem wie auch immer gearteten Ergebnis zu kommen. Aber dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, murmelte er. »Das ist nicht die NAUTILUS. Siekannes nicht sein!« »Da hast du Recht, mein lieber Junge«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Das ist die WOTAN. Aber siekönntees sein, das musst du zugeben. Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend.«
Während Vom Dorff redete, hatten sich Mike und Kanuat langsam herumgedreht. Der deutsche Handelsattaché stand keine drei Schritte hinter ihm und er war keineswegs allein gekommen. Gleich vier Soldaten hatten rechts und links von ihm Aufstellung genommen und zielten mit ihren Gewehren auf sie.
»Wie lange beobachten Sie uns eigentlich schon?«, fragte Mike.
Vom Dorff zuckte die Achseln. »Lange genug«, sagte er. »Ich hoffe doch, eure kleine Rutschpartie war nicht zu unsanft. Du hättest wirklich auf einem leichteren Weg hier hereinkommen können. Warum hast du nicht einfach
geklopft?«
Mike sah sich verstohlen um. Abgesehen von Vom Dorff und seinen vier Soldaten war die Kaimauer vollkommen leer. Mit ein bisschen Glück konnte er den Sprung ins Wasser schaffen. »Versuch es erst gar nicht«, sagte Vom Dorff, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Selbst wenn dich
meine Soldaten nicht erschießen, kämst du nicht sehr weit. Das Fluttor reicht unter Wasser bis zum Grund des Hafenbeckens und es gibt keinen anderen Ausgang aus der Stadt. Du würdest dir nur vollkommen sinnlos eine Erkältung einhandeln.«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Mike. »Ich meine: Es ist doch eigentlich egal, ob Sie mich mit oder ohne Triefnase erschießen lassen.« »Erschießen lassen?« Vom Dorff blinzelte. »Wie kommst du darauf, dass ich so etwas vorhabe?«
»Sie werden mich bestimmt nicht einfach laufen lassen, oder?« »Bestimmt nicht«, antwortete Vom Dorff. »Aber ich habe auch nicht vor, dich und deine Freunde umzubringen. Du hörst anscheinend viel zu oft den britischen Propagandasender, wie?«
»Was haben Sie denn mit uns vor?«, fragte Kanuat. Vom Dorff seufzte. »Wenn ich das wüsste. Ich muss gestehen, dass ihr mich vor große Probleme stellt. Ich kann euch nicht laufen lassen, wie ihr bestimmt einsehen werdet, aber ich kann euch auch nicht umbringen. Ich fürchte, ich werde euch für eine Weile bitten müssen, mit unserem Gästequartier vorlieb
zu nehmen. Wenigstens, bis ich mich entschieden habe, was mit euch geschieht.«
»Und wie lange wird das sein?«, fragte Mike. »So ungefähr zwanzig oder dreißig Jahre? Oder nur so lange, bis Deutschland mit Hilfe der WOTAN den Krieg gewonnen hat?«
»Du urteilst wieder vorschnell«, sagte Vom Dorff.
»Aber dieser Fehler ist verständlich.«
»Was haben Sie mit Trautman gemacht?«, fragte Mike.
»Was nötig war«, antwortete Vom Dorff. »Euer Freund ist ziemlich übel verletzt, aber das habt ihr ja bestimmt schon selbst gemerkt. Wir haben ihn in die Krankenstation gebracht. Macht euch keine Sorgen.Wir haben sehr gute Ärzte hier.« Er machte eine auffordernde Geste. »Muss ich euch in Ketten legen lassen oder erspart ihr uns allen diese Peinlichkeit?«
Mike starrte ihn wütend und wortlos an, trat dann aber gehorsam auf Vom Dorff zu und folgte ihm. Auf dem ersten Stück bewegten sie sich genau den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann aber steuerten sie auf eines der großen Gebäude in der Nähe des Hafens zu: eine gewaltige, leicht asymmetrisch wirkende Pyramide, hinter deren zahlreichen Fenstern weiße und gelbe Lichter brannten.
Sie wurden getrennt, als sie das Haus betraten. Vom Dorff versicherte ihm noch einmal, dass Kanuat kein Haar gekrümmt würde, bestand aber darauf, den Inuit von seinen Soldaten in den Keller der Pyramide bringen zu lassen. Mike musste ihm die Treppe hinauf in einen kleinen, erstaunlich gemütlicheingerichteten Raum folgen. Zu Mikes Überraschung ließ Vom Dorff die beiden Soldaten draußen auf dem Flur zurück, als er die Tür hinter sich und Mike schloss.
»Nur Sie und ich?«, fragte Mike spöttisch. »Ganz allein?
Haben Sie gar keine Angst?«
»Ich bin dreißig Jahre älter als du, mein Junge«, sagte Vom Dorff, während er um den Schreibtisch herum ging und sich setzte.
»Vielleicht kann ich ja Judo«, antwortete Mike. »Oder Karate.«
»Ja und ich trage den schwarzen Gürtel in Mikado«, sagte Vom Dorff spöttisch. »Lass uns doch mit diesem Unsinn aufhören, Mike. Bitte setz dich. Wir haben zu reden.«
Mike rührte sich nicht, sondern starrte Vom Dorff nur weiter böse an. Nach ein paar Sekunden wurde ihm jedoch selbst klar, wie albern dieses Benehmen war. Widerwillig zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Bist du hungrig?«, fragte Vom Dorff.
Mike wollte schon aus reinem Trotz den Kopf schütteln, nickte aber dann. Schließlich hatte er nichts zu verlieren, wenn er damit aufhörte, den Trotzkopf zu spielen.