»Das ist gut«, sagte Vom Dorff. »Ich nämlich auch.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. An der Wand hinter ihm leuchtete ein winziger Bildschirm auf und ein ernst dreinblickender Mann fragte nach Vom Dorffs Wünschen. Der Attaché bestellte zwei Mahlzeiten und schaltete das Gerät dann wieder ab. Grinsend wandte er sich an Mike.
»Diese atlantische Technik ist schon etwas Tolles«, sagte er. »Unvorstellbar, dass dieses Volk trotz seiner Macht so einfach untergegangen ist, findest du nicht auch?«
»Vielleicht geht es Deutschland ja auch so«, sagte Mike böse. »Dem Kaiserreich?« Vom Dorff lächelte nachsichtig. »Du verstehst offenbar immer noch nicht, wie? Wir haben nichts mit dem Kaiserreich zu schaffen.«
»Aber die >U37< und die PRINZ FERDINAND –« »Kapitänleutnant Berghoff und Hansen sind gute alte Freunde von mir«, unterbrach ihn Vom Dorff. »Die Regierung in Berlin hat keine Ahnung von alledem hier.« Mike starrte ihn mit offenem Mund an. »Die Regierung –?« »Weiß nichts davon«, wiederholte Vom Dorff. »Und das sollte auch noch eine ganze Weile so bleiben.
Aus diesem Grund hoffe ich ja auch, dass wir uns auf einer vernünftigen Basis einigen.« »Und wie ... soll diese Basis aussehen?«, fragte Mike stockend. Er war vollkommen perplex. Er hatte mit allem gerechnet – aber nichtdamit.»Ich will ganz ehrlich zu dir sein«, antwortete Vom Dorff. »Wir
haben gewisse Schwierigkeiten, diese erstaunliche Technik in allen Einzelheiten zu verstehen. Wir könnten uns sozusagen gegenseitig von Nutzen sein.« »Ich soll Ihnen helfen, atlantische Technologie zu verstehen?«, vergewisserte sich Mike. »Warum sollte
ich das wohl tun?«
»Zum Beispiel, um die Bedingungen deines Aufenthaltes hier zu verbessern«, antwortete Vom Dorff. »Und natürlich das deiner Freunde.« »Abgesehen von Trautman sind sie nicht einmal hier«, antwortete Mike. »Und Trautman würde mir den
Kopf abreißen, wenn ich seinetwillen die anderen verrate.« »Was mich gleich zur nächsten Frage bringt«, sagte Vom Dorff ungerührt. »Wo ist die NAUTILUS?« »Weg«, antwortete Mike. »Trautman und ich sind auf eigene Faust losgezogen.« Vom Dorff machte sich nicht einmal die Mühe, auf diese lächerliche Ausrede zu reagieren. »Früher oder
später erwischen wir sie ja doch«, sagte er. »Wenn du deinen Freunden einen Gefallen tun willst, dann
solltest du eher dafür sorgen, dass es ihnen nicht so ergeht wie dem alten Trautman.« Diese Wortwahl kam Mike irgendwie seltsam vor, aber er war über Vom Dorffs Vorschlag viel zu empört, um mehr als einen einzigen flüchtigen Gedanken daran zu verschwenden. Mike ließ alle Vorsicht
fahren und gab Vom Dorff die scharfe Antwort, die ihm gebührte. »Ich will Trautman sehen«, endete er. »Vorher rühre ich mich nicht hier weg.«
»Dann dürfte es dir schwer fallen, mich in die Krankenstation zu begleiten«, antwortete Vom Dorff lächelnd.
»Die Krankenstation?«
»Natürlich. Du wolltest doch Trautman sehen, oder?«
Vom Dorff hielt tatsächlich Wort. Die beiden Soldaten, die Mike abholten, brachten ihn nicht sofort in eine Gefängniszelle, sondern eskortierten ihn zur Krankenstation der Stadt, wo er Trautman fand, aber er konnte nicht mit ihm reden. Trautman schlief und Mike wollte ihn nicht eigens wecken. Aber immerhin überzeugte er sich mit eigenen Augen davon, dass Trautman tatsächlich die beste Pflege bekam, die hier möglich war.
Nicht dass ihn diese Erkenntnis irgendwie sanfter stimmte. Vom Dorff würde ihm wahrscheinlich jeden Wunsch erfüllen, bis er ihm gesagt hatte, was er wissen wollte.
Nach seinem Abstecher zu Trautman brachten ihn die Soldaten in den Keller des Gebäudes, wo die Gefängniszellen lagen – unddieentsprachen nun wirklich voll und ganz Mikes Erwartungen. Es waren winzige, fensterlose Löcher mit vergitterten Türen, die kaum Platz für zwei Gefangene geboten hätten, im Allgemeinen aber mit vier oder auch fünf Männern belegt waren. Mikes Befürchtungen, in eine dieser überfüllten Zellen gesteckt zu werden, erfüllten sich allerdings nicht. Er wurde vorbei an einer langen Doppelreihe überbelegter Gitterkäfige zu einem Raum ganz am Ende des Korridors geführt, der ihm offensichtlich allein zugedacht war. Vermutlich nahm Vom Dorff auch noch an, dass er ihm mit dieser Sonderbehandlung einen Gefallen tat!
Die Stadt unter dem Eis schien eine eigene Zeitrechnung zu haben, die sich von der draußen gehörig unterschied, denn die allermeisten Gefangenen lagen auf ihren Pritschen oder auch auf dem nackten Fußboden und schliefen. Nur einige wenige hoben müde den Kopf oder blinzelten in seine Richtung, ohne ihm auch nur einen zweiten Blick zu gönnen. Die Ankunft eines neuen Gefangenen schien hier unten nichts Besonderes zu sein.
Mike war ganz froh darüber. Er war sehr müde und hatte keine Lust mehr zu reden. Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Er war noch nicht so weit es sich einzugestehen, aber Tatsache war, dass er sich in einer nahezu aussichtslosen Lage befand. Sicher, nicht zum ersten Mal – aber es war selten so schlimm gewesen wie heute. Vom Dorff und die anderen hatten eindeutig alle Vorteile auf ihrer Seite. Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, wälzte er sich auf der unbequemen Pritsche auf die Seite und sah sich um. Durch die Gitterstäbe seines Gefängnisses konnte er in etliche der anderen Zellen hineinsehen. Bei einigen Gefangenen handelte es sich sicherlich um Mitglieder der verschollenen Expedition, aber er sah auch Männer in Marineuniformen und schmuddeligen Lumpen. Ungeachtet seiner zur Schau getragenen Großmut schien Vom Dorff ein ziemlich strenges Regime zu führen. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Und erwachte, als jemand seine Zelle betrat und derart laut mit etwas herumklapperte, dass man meinen konnte, der ganze Berg über ihnen wäre zusammengebrochen. Mike öffnete verschlafen die Augen, setzte sich gähnend auf und bekam gerade noch mit, wie seine Zellentür wieder zugeschlagen wurde. Als er die Beine von der Pritsche schwang, wäre er um ein Haar in einen flachen Blechteller getreten, den der Mann zurückgelassen hatte.
Jedenfalls wusste er jetzt, was der Grund für die Aufregung war. Die unappetitliche wässrige Brühe, die in dem Teller schwappte, stellte offensichtlich sein Frühstück dar.
Abgesehen von ihm selbst waren alle anderen Gefangenen schon emsig damit beschäftigt, ihre Suppe lautstark auszuschlürfen – wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, Suppe zu sich zu nehmen, wenn man keinen Löffel hatte. Der Gefangenenwärter hatte kein Besteck dazugetan.
Der Anblick der Suppe regte nicht unbedingt Mikes Appetit an, sodass er die Gelegenheit nutzte, sich gründlich umzusehen. Der Mann, der in der Zelle neben ihm saß, kam ihm auf sonderbare Weise bekannt vor, obwohl er sein Gesicht gar nicht richtig erkennen konnte, denn er saß so auf dem Rand seiner Pritsche, dass er nicht in Mikes Richtung sah. Außerdem war es vollkommen ausgeschlossen, dass sie sich kannten. Seine Erinnerung spielte ihm wohl einen Streich. Mike wandte sich den Männern in der Zelle auf der anderen Seite zu.
Er war ziemlich sicher, es dabei mit Mitgliedern genau der Expedition zu tun zu haben, die sie suchten. Sie trugen zerschlissene, vollkommen verdreckte Winterkleidung, die ganz den Eindruck machte, als hätten sie sie seit einem Jahr nicht mehr gewechselt, und auch ihr Haar und ihre Barte waren lang und ungepflegt.
Nach einer Weile schien sein Starren den Männern wohl aufzufallen, denn plötzlich ließ einer von ihnen seinen Teller sinken, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf Mikes eigene Suppe.