»Du solltest lieber essen«, sagte er.
»Ich habe keinen Appetit«, antwortete Mike. »Nichtdarauf.«
Der Mann schlürfte den Rest seiner Suppe aus, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund und stellte den Teller zu Boden. »Du bist verwöhnt, wie?«, fragte er. »Das legt sich. In spätestens drei Tagen sehnst du dich nach dem Fraß, mein Wort darauf. Ich habe sogar das Gefühl, dass heute Sonntag sein muss. So was Gutes gibt's nicht jeden Tag. Also iss lieber.«
»Und wenn du es wirklich nicht willst, dann gib es mir«, sagte
der Mann in der anderen Nebenzelle. »Es ist zu schade zum Wegschütten.«
Mike drehte langsam den Kopf – und riss ungläubig die Augen auf. »Trautman?«, keuchte er. »Aber das ist doch ...«
Es war nicht nur unmöglich, es war auch nicht Trautman. Aber die Ähnlichkeit war wirklich frappierend. Der Mann war viel jünger als Trautman und auch ein gutes Stück größer. Er hatte einen dichten schwarzen Vollbart und schulterlanges Haar, aber abgesehen davon hätte er eine dreißig Jahre jüngere Version Trautmans sein können. Wie sein jüngerer Bruder. Oder ...
Und endlich begriff Mike. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. »Kennen wir uns?«, fragte der Schwarzhaarige. »Nein«, stotterte Mike. »Ich dachte nur ... Es war ein Irrtum. Bitte entschuldigen Sie. Ich habe Sie
verwechselt.«
»Mit jemandem, der genauso aussieht wie ich?«, fragte der andere zweifelnd. »Und zufällig auch genau so heißt? Wer soll dir das wohl glauben?« »Wer bist du überhaupt?«, fragte der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte. »Lässt Berghoff jetzt
schon Kinder kidnappen?« »Ich bin freiwillig hier«, antwortete Mike. »Na ja, beinahe ...« »Das ist keine Antwort«, sagte Trautman. Trautman? Trautman .. »Das stimmt«, gestand Mike. »Aber ich bin ... überrascht. Und es ist nicht so leicht, die Sache zu
erklären.« »Oh, das macht nichts«, antwortete der Mann, dessen Namen
er nicht kannte. »Wir haben viel Zeit.«
»Oder hast du etwas vor?«, fügte der Mann mit Trautmans Gesicht hinzu.
»Wir sind hier, weil wir Sie gesucht haben«, antwortete Mike. »Sie und Ihre Freunde.«
»Wer istwir?«,fragte Trautman rasch.
Der andere fügte hinzu: »Und was glaubst du, wer wir sind?«
»Sie gehören zu der Expedition, die letztes Jahr aus Sadsbergen aufgebrochen ist, um das Geheimnis des
Berges zu ergründen.«
»Das stimmt«, antwortete der Mann verblüfft. »Aber woher wisst ihr davon? Wir haben es niemandem
gesagt. Ganz im Gegenteil. Die ganze Expedition war streng geheim.«
»Wir haben euren Funkspruch aufgefangen«, antwortete Mike. »Vor ungefähr einer Woche.«
»Was für einen Funkspruch?«, fragte der andere Mann. »Siehst du hier irgendwo ein Funkgerät?«
»Wir haben einen SOS-Ruf empfangen«, beharrte Mike. »Allerdings verstümmelt. Und auf Norwegisch.«
»Auf Norwegisch?«
»Sörensen«, sagte Trautman. »Das muss Sörensen gewesen sein. Sieht so aus, als hätten wir ihm unrecht
getan.« In Mikes Richtung gewandt fügte er hinzu: »Nicht alle von uns sitzen im Gefängnis, musst du
wissen. Einige haben sich mit Vom Dorff und Berghoff zusammengetan. Jedenfalls dachten wir das bis
jetzt ... Also gut. Jetzt wissen wir, wie ihr hierher kommt. Aber wir wissen immer noch nicht, wer ihr
seid.« »Mein Name ist Mike«, antwortete Mike. »Ich gehöre zur Besatzung der NAUTILUS. Und ich glaube, ich bin zusammen mit Ihrem Vater hier.«
Es wurde sehr still. Nicht nur Trautman starrte ihn fassungslos an. Für drei, vier Atemzüge war es so ruhig, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können.
»Was ... sagst du da?«, murmelte Trautman schließlich. »Jedenfalls glaube ich, dass es Ihr Vater ist«, sagte Mike. »Er muss es sein. Er hat Kopf und Kragen riskiert, um hierher zu kommen. Wir konnten uns gar nicht erklären, warum. Bis jetzt.«
»Ist er hier?«, fragte Trautman. »Mein Vater ist hier? Hier in der Stadt?«
»In der Krankenstation«, sagte Mike und fügte hastig hinzu: »Keine Angst. Er ist verletzt, aber ich glaube, nicht allzu schlimm.« »Und die anderen?«, fragte Trautman. »Ich meine, ihr seid doch bestimmt nicht allein gekommen.« »Du hast von der NAUTILUS gesprochen«, erinnerte der andere. Mike schwieg. Statt die Frage zu beantworten, warf er einen bezeichnenden Blick in die Runde. Sie
waren nicht allein. »Sprichst du Französisch?«, fragte Trautman, wobei er bereits zu dieser Sprache wechselte. Mike nickte.»Oui«,sagte er.»Un petit.«Trautman junior machte ein Gesicht, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen. »Autsch«, sagte er,
fuhr aber trotzdem in derselben Sprache fort: »Es wird schon irgendwie gehen. Die Typen hier sprechen jedenfalls kein Wort
Französisch, da bin ich ziemlich sicher.« Mike war ganz und gar nicht sicher, ob er dieser Sprache mächtig genug war, um wirklich eine Unterhaltung führen zu können. Nach einigen Minuten jedoch und unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen gelang es ihnen tatsächlich, eine entsprechende Basis zu finden.
Das Gespräch dauerte sehr lange. Natürlich wollten Trautman und die anderen haarklein wissen, wie sie hergekommen waren und wie ihre Chancen aussahen, vielleicht doch noch von hier wegzukommen. Aber Mike erfuhr auch eine Menge über Trautman und sein Verhältnis zu seinem Sohn. Wie sich herausstellte, hatten sich die beiden seit über zwanzig Jahren nicht gesehen, und auch wenn Trautmans Sohn entsprechenden Fragen geschickt aus dem Weg ging, so war Mike doch nach einer Weile ziemlich sicher, dass die beiden nicht im Guten auseinander gegangen waren.
Sie redeten, bis das Mittagessen gebracht wurde. Während der Gefangenenwärter die dünne Suppe ausschenkte, die sich im Übrigen in nichts von der vom Morgen unterschied, versanken sie wieder in Schweigen, und während sie darauf warteten, dass die geleerten Teller wieder abgeholt wurden, ging die Tür am Ende des Ganges auf und Vom Dorff und Kapitänleutnant Berghoff erschienen.
»Wie ich sehe, hast du ja schon neue Freunde gefunden«, begann Vom Dorff. »Die Überraschung ist mir gelungen, wie?« Mike sagte nichts und auch Trautman junior schwieg, spießte Vom Dorff aber mit Blicken regelrecht auf. »Also gut«, seufzte Vom Dorff. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Hast du dir mein Angebot überlegt?«
»Meine Freunde zu verraten?« »Dir wenigstens anzuhören, was wir zu sagen haben, mein Junge«, sagte Berghoff. »Vielleicht urteilst du vorschnell.«
»Was haben sie dir erzählt?«, fragte Trautman böse. »Dass sie diese Anlage und die WOTAN benützen wollen, um der Welt den himmlischen Frieden zu bringen?« Er machte ein abfälliges Geräusch. »Glaub ihnen kein Wort. Sie sind nichts als habgierige Piraten.«
»Das hat die Welt über Mikes Vater auch gedacht«, sagte Vom Dorff ruhig. »Ist Ihnen noch nie in den
Sinn gekommen, dass Sie sich irren könnten?« »Mir ist alles Mögliche in den Sinn gekommen, in den Monaten, in denen ich jetzt in diesem Loch sitze«, grollte Trautman.
Vom Dorff setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem wertlosen Kopfschütteln und
wandte sich wieder an Mike. »Könnenwirwenigstens vernünftig miteinander reden?«, fragte er. Mikes erster Impuls war natürlich, empört den Kopf zu schütteln. Aber dann zögerte er, dachte einen Moment nach und sagte schließlich: »Ich kann das nicht allein entscheiden. Ich muss mit Trautman reden. Und ich will, dass er dabei ist.« Er deutete auf Trautmans Sohn.
Berghoffs Gesicht verdüsterte sich. »Du bist wohl kaum in der Position, Forderungen zu –«