Mike war noch nicht wach genug, um einem so komplizierten Gedankengang zu folgen. Benommen setzte er sich auf und schwang die Beine vom Bett. Astaroth wurde mehr oder weniger unsanft von seiner Brust heruntergeschleudert und landete mit typischer Katzengeschicklichkeit auf allen vier Pfoten. Trotzdem schenkte er Mike einen beleidigten Blick. »Was willst du eigentlich?«, fragte Mike, während er ein Gähnen unterdrückte und sich mit beiden Händen über die Augen rieb.
Entschuldige, dass ich deinen Schönheitsschlaf gestört habe,antwortete Astaroth beleidigt.Obwohl du ihn weiß Gott nötig
genug hättest. Trautman schickt mich. Wir haben unser Ziel erreicht und tauchen gleich auf. Außerdem ist das Essen fertig.
»Essen?«,fragteMikemisstrauisch.»WerhatheuteKüchendienst?«Ben,antworteteAstaroth.Erklangjetzteindeutig
schadenfroh.Aber an deiner Stelle würde ich mich nicht zu laut beschweren. Trautman ist nicht besonders gut gelaunt.
Mike stand auf und begann sich anzuziehen. »Ist er immer noch sauer wegen der Wache?«
Sauer ist gar kein Ausdruck,antwortete Astaroth.Mit Recht. Ist dir eigentlich klar, dass wir alle um ein Haar in den Tang gebissen hätten?
»In den Tang gebissen?«
Sagt ihr Menschen das nicht so?Mike überlegte einen Augenblick, aber dann grinste er. »Ins Gras gebissen, meinst du.«Wir sind hier auf dem Meeresgrund,erwiderte Astaroth.Da gibt es kein Gras.Mike grinste. Er zog sich schnell an, verließ seine Kabine und steuerte den Salon an. Trautman, Singh, Serena, Ben und Chris saßen bereits an dem großen Tisch im Salon und stocherten in
dem herum, was sich auf ihren Tellern befand. Trautman begrüßte ihn mit einem wortlosen Nicken und deutete auf den einzigen noch freien Platz. Mike setzte sich, warf aber vorher noch einen raschen Blick aus dem Fenster. Die NAUTILUS war aufgetaucht und lag jetzt wieder reglos an der Wasseroberfläche. Trotzdem konnte er draußen nicht viel sehen.
Die Sonne war untergegangen und der Himmel war so bewölkt, dass so gut wie keine Sterne sichtbar waren. Eine Weile war nur das Klappern des Bestecks zu hören, dann räusperte sich Trautman vernehmlich. »Ich
möchte mich noch bei euch entschuldigen«, sagte er. »Ich war vorhin vielleicht ein bisschen heftig. Es tut mir Leid, dass ich die Beherrschung verloren habe. Aber seine Pflichten auf der Wache zu vernachlässigen ist wirklich eine der schlimmsten Verfehlungen an Bord eines Schiffes. Ihr habt ja gesehen, was passieren kann.«
Wieder kehrte für endlose Sekunden ein betretenes Schweigen ein. Dann räusperte sich Chris und sagte: »Ich war es.«
Trautman runzelte die Stirn. »Was?« »Es war meine Wache«, gestand Chris niedergeschlagen. »Wenn ich die Instrumente im Auge behalten hätte, hätte ich das Schiff bestimmt früh genug bemerkt. Aber ich war ... abgelenkt.«
Trautman schwieg, dann sagte er überraschend sanft: »Ich werde dir jetzt keine Standpauke halten, wenn du das erwartest. Du hast ja erlebt, was geschehen kann. Denk das nächste Mal daran.«
»Bestimmt«, versprach Chris. Plötzlich lächelte Trautman. Er griff nach seinem Löffel, schob sich eine gewaltige Portion Essen in seinen Mund und kaute.
Einmal.
Sein Lächeln gefror. Ganz langsam senkte er den Löffel, kaute noch einmal und schluckte die ganze Portion dann mit sichtlicher Mühe herunter. »Stimmt irgendetwas mit dem Essen nicht?«, fragte Ben. »Nein, nein«, antwortete Trautman hastig. »Es ist ganz ausgezeichnet. Wirklich. Wenn man bedenkt,
dass du erst seit fünf Jahren versuchst das Kochen zu lernen, ist es sogar hervorragend ... Chris, darf ich
fragen, was dich auf der Wache so sehr abgelenkt hat?« Chris hob seinen Löffel, roch daran und warf Ben einen schiefen Blick zu. »Ich habe versucht, das Morsealphabet zu lernen«, sagte er.
»Aber hast du das nicht schon vor Wochen?«, fragte Trautman interessiert. Er beugte sich vor und schob
dabei ganz zufällig seinen Teller so weit von sich, wie es ging. »Ich dachte, ein bisschen praktische Übung tut mir ganz gut«, antwortete Chris. »Deshalb habe ich einfach den Fernverkehr abgehört.«
»War etwas Interessantes dabei?«
Chris schob seinen Teller von sich, ging zum Funkpult und kam mit den voll gekritzelten Zetteln wieder, die Mike schon vorhin gesehen hatte. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Ich habe alles so aufgeschrieben, wie Sie es mir gezeigt haben, aber es ist nur Unsinn dabei herausgekommen. Sehen Sie selbst.«
Trautman griff nach den Zetteln, blätterte sie durch und schüttelte ein paar Mal lächelnd den Kopf. Dann erlosch sein Lächeln und an seiner Stelle machte sich ein überraschter Ausdruck auf seinen Zügen breit. »Das ist sehr seltsam«, murmelte er. »Das ist Norwegisch. Ein ziemlich seltener Dialekt, aber ich kenne ihn.«
»Und Sie können das lesen?«, fragte Chris aufgeregt. »Ja und nein«, erwiderte Trautman kopfschüttelnd. »Das meiste kann ich entziffern... Aber es ergibt trotzdem keinen Sinn.«
Plötzlich wirkte er sehr aufgeregt. Er sprang hoch, lief mit den Zetteln in der Hand zum Bücherregal und rief über die Schulter zurück: »Räumt den Tisch frei! Ich brauche Platz!«
Nicht nur Mike hatte es plötzlich sehr eilig, seinem Befehl zu folgen. Nur Ben rührte sich nicht, sondern stopfte weiter Löffel um Löffel in sich hinein. »Aber ihr seid doch noch gar nicht fertig mit dem Essen!«, beschwerte er sich.
»Die Wissenschaft geht vor«, sagte Juan.
»Außerdem tut allen ein Fastentag dann und wann ganz gut«, fügte Serena hinzu. »In meiner Heimat war das so üblich, glaub mir. Zu gutes Essen ist auf die Dauer nicht gesund.«
»Deshalb sind die Atlanter wahrscheinlich auch ausgestorben«, maulte Ben. »Aber gut, wenn du meinst ... Trotzdem – jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Wenn ihr wollt, übernehme ich morgen noch einmal freiwillig den Küchendienst.«
Niemand antwortete.
Trautman arbeitete zwei Stunden, aber danach sah der Salon aus, als hätten Dschingis Khans Hordenzwei Wochen lang darin gewütet: Überall lagen Bücher herum und lose Blätter, voll gekritzelte Notizzettel und Stifte, Radiergummis und zerknüllte Papierkugeln. Niemand nahm auch nur Notiz davon. Sie alle waren viel zu aufgeregt.
Trautman hatte es tatsächlich geschafft.
»Es ist ein Notruf«, sagte er schließlich. Er wirkte erschöpft,
aber zufrieden.
»So?«, machte Ben zweifelnd. Er beugte sich ein wenig vor und sah über Trautmans Schulter auf denkleinen Zettel hinab, auf dem die Übersetzung allmählich Gestalt angenommen hatte. »Für mich sieht es immer noch aus wie Buchstabensalat.«
»Es ist ein sehr alter Code«, antwortete Trautman. »Es scheint sich um eine Gruppe von Forschern zu handeln, die in Schwierigkeiten geraten sind. Das hier –«, er tippte mit dem Zeigefinger auf eine Reihe von Buchstaben und Zahlen, »– sind ziemlich genaue Koordinaten. Ich schätze, dass wir zwei Tage
brauchen werden, um dorthin zu kommen.« »Wohin?«, fragte Juan. »Grönland.« »Grönland?« Ben sah nicht begeistert aus. »Es ist ein Notruf«, wiederholte Trautman in leicht tadelndem Tonfall. »Wir müssen darauf reagieren,
das schreibt das internationale Seerecht vor. Und ich würde es auch tun, wenn es nicht so wäre. Jemand ist in Schwierigkeiten und braucht Hilfe.« Er reichte Singh seinen Zettel. »Singh, würdest du bitte den Kurs berechnen?«
Der Inder ging wortlos zu den Kontrollinstrumenten. Während er tat, was Trautman ihm aufgetragen hatte, sagte Ben noch einmaclass="underline" »Grönland.«