»Moment!« Vom Dorff unterbrach ihn mit einer Geste. »Warum eigentlich nicht? Als kleine Geste des guten Willens sozusagen ... Wenn Sie einverstanden sind.« Trautman junior wirkte kaum weniger verblüfft und er zögerte auch ein kleines bisschen länger, als
eigentlich gut war. Aber dann nickte er.
»Wunderbar!«, freute sich Vom Dorff. »Das ist doch schon einmal ein Anfang. Ich lasse euch dann in einer halben Stunde abholen.« Die Eskorte, die sie zu Trautman bringen sollte, erschien fast auf die Minute pünktlich. Aber sie wurden
nicht sofort in die Krankenstation geführt. Stattdessen wiesen die Männer sie in ein anderes Gebäude, in
dem eine Badewanne mit heißem Wasser, frische Kleider und sogar ein Frisör auf Trautmans Sohn warteten.
Als er – nach einer guten halben Stunde – wieder aus dem angrenzenden Zimmer kam, hatte er sich totalverändert. Mike war trotz allem überrascht. Schon am Morgen war ihm die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem schwarzhaarigen Mann und seinem Vater aufgefallen. Jetzt, mit kurz geschnittenem Haar, sorgsam gestutztem Bart und frischen Kleidern, hätten die beiden – abgesehen vom Alter – eineiige Zwillinge sein können. Sein Gesicht sah erstaunlich frisch aus für einen Mann, der fast ein Jahr lang in einer Gefängniszelle gesessen hatte.
»Großer Gott, hat das gut getan!«, seufzte er. »Jetzt noch eine anständige Mahlzeit und ein riesiges Glas Bier und ich fühle mich fast wieder wie ein Mensch!« Er setzte sich schwer in einen der bequemen Stühle, mit denen das Zimmer ausgestattet war. »Es ist schon erstaunlich, wie sehr man die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen lernt, wenn man sie erst einmal eine
Weile nicht hat.«
»Vielleicht bekommen Sie sie ja bald wieder«, sagte Mike.
Trautman lachte vollkommen humorlos. »Ich habe dich für klüger gehalten«, sagte er. »Du fällst doch nicht wirklich auf diesen Vom Dorff herein?«
»Natürlich nicht«, antwortete Mike. »Aber ich habe Ihnen nicht alles erzählt.«
Trautman warf einen raschen Blick zur Tür und Mike tat dasselbe, ehe er weitersprach. Aber sie waren allein.
»Ich war unten nicht ganz sicher, ob uns nicht doch jemand belauscht«, fuhr Mike fort.
»Das war sehr vernünftig«, pflichtete ihm Trautman bei. »Aber ich habe mir so etwas schon fast gedacht. Euer Schiff ist in der Nähe, nicht wahr? Die NAUTILUS.«
»Gut kombiniert«, bestätigte Mike.
»Das war nicht schwer zu erraten«, sagte Trautman. »Und du glaubst, deine Freunde werden herkommen, um uns zu befreien?«
»Darauf verwette ich mein Leben«, sagte Mike überzeugt. »Ihr Vater hat Singh zwar befohlen, nicht länger als zwei Tage auf uns zu warten, aber ich kenne Singh. Und auch die anderen. Sie werden wahrscheinlich die zwei Tage abwarten und dann herkommen, um nach uns zu suchen.«
»Dann sind sie jetzt noch draußen vor der Küste?«, fragte Trautman.
Mike nickte. »Sie spielen Fangen mit Kapitän Hansen und seinem Zerstörer. Singh beherrscht die NAUTILUS perfekt. Er wird diesen Hansen schön weit weglocken, da bin ich sicher. Die NAUTILUS schafft die Entfernung, für die die PRINZ FERDINAND einen Tag braucht, in weniger als einer Stunde.«
»Dann muss sie ein gutes Stück schneller sein als die WOTAN«, sagte Trautman. »Woher wissen Sie das?« Trautman winkte ab. »Ich war der Leiter dieser Expedition, mein Junge. Vom Dorff hat mir dasselbe
Angebot gemacht wie dir. Und ich bin natürlich zum Schein darauf eingegangen und habe mich hier umgesehen. So lange, bis ich dachte, ich hätte einen sicheren Fluchtweg entdeckt. Leider habe ich mich getäuscht.«
»Und seitdem sitzen Sie im Kerker.«
»Ja«, sagte Trautman. »Genau wie du und mein Vater – wenn es deinen Freunden nicht gelingt, uns hier herauszuholen. Ich hoffe, sie kommen auch wirklich.« »Hundertprozentig«, versicherte Mike. Draußen auf dem Gang wurden Schritte laut und sie verstummten abrupt. Nach einigen Augenblicken
traten Vom Dorff, Berghoff und zwei Soldaten ein. Mike fiel auf, dass die Soldaten nicht bewaffnet waren. »Nun?«, fragte Berghoff, an Trautman gewandt. »Sind Sie so weit?« »Ja.« Trautman stand auf. »Sie können die WOTAN zum Auslaufen bereitmachen, Herr Kapitän.« Mike blinzelte. Was? Was?! »Sie wollen nicht vorher zu Ihrem Vater?«, fragte Vom Dorff. »Das muss warten«, antwortete Trautman kopfschüttelnd. »Ich fürchte, wir haben nicht allzu viel Zeit. Die NAUTILUS kreuzt draußen vor der Küste und versucht
im Moment Hansen wegzulocken. Funken Sie ihn an, dass er nicht darauf hereinfallen soll. Wir sind in
spätestens drei Stunden bei ihm.« Mikes Atem stockte schier und sein Herz begann zu rasen. Er hörte, was Trautman sagte, aber er weigerte sich einfach, es zu glauben.
»Was ... was bedeutet ... das?«, krächzte er. »Ich würde sagen, dass du zu vertrauensselig bist, mein Junge«, sagte Trautman lächelnd.
»Sie haben ... gelogen«, stammelte Mike. »Es war alles gelogen! Von Anfang an!« »Nicht alles«, sagte Trautman. »Eigentlich nur das Allerwenigste, um genau zu sein. Ich habe dir doch gesagt, dass sich ein paar von uns mit Vom Dorff und den anderen zusammengetan haben. Um genau zu sein, sogar die meisten. Auch wenn anscheinend einer unserer Kameraden falsch spielt.« Er wandte sich an Vom Dorff. »Lassen Sie Sörensen verhaften. Offenbar funkt er seit einiger Zeit heimlich nach Hilfe.«
»Wir sollten ihm dankbar sein«, sagte Vom Dorff. »Ohne ihn wäre die NAUTILUS wahrscheinlich niemals hier aufgetaucht.« Er gab einem Soldaten einen Wink. »Erledigen Sie das.«
Der Mann ging und Mike starrte wieder Trautman an. Er spürte, wie sich seine Augen mit brennenden Tränen füllten. »Sie ... Sie haben mich die ganze Zeit über belogen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind Sie nicht einmal Trautmans Sohn, sondern sehen ihm nur ähnlich.«
»O nein, er ist schon mein Vater«, sagte Trautman. »Wir haben sogar eine Menge mehr gemein, als du vielleicht ahnst.« Er lachte. »Wir haben sogar denselben Beruf. Wir kommandieren beide ein atlantisches Unterseeboot. Nur unsere Ziele sind ein bisschen unterschiedlich.«
»Haben Sie den Mut, das Ihrem Vater ins Gesicht zu sagen?«,fragte Mike.»Selbstverständlich«,antworteteTrautman.»Sobaldichzurück bin.«»Siesindverrückt,wennSieglauben,dassSiedie
NAUTILUS so leicht aufbringen können«, sagte Mike. »Ich habe nicht gesagt, dass es leicht wird«,antwortete Trautman. »Aber wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite. Dein Freund Singh erwartet vielleicht die >U37<, aber bestimmt nicht so etwas wie die WOTAN.«
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Mike. »Wollen Sie Singh und die anderen umbringen?«
»Gott bewahre!«, sagte Trautman. »Wir brauchen die NAUTILUS. Einen solchen Schatz versenkt man doch nicht einfach.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Keine Angst, Mike. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die NAUTILUS unbeschädigt in meine Gewalt zu bringen.«
Mike sagte nichts mehr, sondern starrte Trautman nur an. Er war enttäuscht, wütend und verletzt wie selten zuvor in seinem Leben. Aber das war nicht einmal das Schlimmste.
Das Allerschlimmste ist, dachte Mike, dass Trautman durchaus gute Chancen hatte, erfolgreich zu sein.
»Ich bin nicht überrascht.« Trautman hatte sich in seinem Bett aufgesetzt und sah ihn traurig an. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und er war noch immer blass, aber ansonsten hatte er sich ganz gut erholt. Er war eben zäh. »Enttäuscht, ja, aber nicht überrascht. Was du mir erzählt hast, passt genau zum Charakter meines Sohnes.«
»Und ich habe ihm alles verraten!«, sagte Mike. »Wenn es ihm jetzt gelingt, die NAUTILUS zu kapern, dann ist das ganz allein meine Schuld.«
»Ist es nicht«, widersprach Trautman. »Woher hättest du es wissen sollen? Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich. Ich hätte dich warnen müssen.«