»Warum haben Sie uns eigentlich nie erzählt, dass Sie einen Sohn haben?«, fragte Mike.
Trautman setzte sich weiter auf. Seine Linke spielte mit kleinen, nervösen Bewegungen an den weißen Mullbinden, mit denen sein rechter Arm und seine Schulter bandagiert waren, während er antwortete. »Ja, warum habe ich nie darüber geredet? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil kein Vater stolz darauf ist, zuzugeben, dass sein einziger Sohn ein gewissenloser Verbrecher geworden ist.«
»Das wissen Sie doch gar nicht«, widersprach Mike. »Vielleicht hat Vom Dorff ihn ja gezwungen, ihm zu helfen.«
»Gezwungen?« Trautman schnaubte. »Du kennst Thomas nicht. Es sollte mich wundern, wenn er nicht in spätestens einem Jahr der Chef hier ist.«
Mike war ziemlich sicher, dass er es jetzt schon war. Als er mit Vom Dorff und Berghoff gesprochen hatte, da hatte er jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, mit einem Vorgesetzten
zu reden. Aber das behielt er im Moment lieber für sich. Es
hatte keinen Zweck, Trautman noch mehr wehzutun.
»Was ist passiert?«, fragte Mike. »Zwischen Ihrem Sohn und Ihnen, meine ich.«
Trautman zuckte mit den Achseln, verzog dann schmerzhaft die Lippen und hob die Hand an seine verletzte Schulter. »Die übliche Geschichte eben«, sagte er. »Die, die oft zwischen Vätern und Söhnen vorkommt – wir wollten einander ununterbrochen beweisen, wer der Bessere ist.«
Mike verstand das nicht ganz – wie auch? Schließlich hatte er seinen Vater niemals kennen gelernt. Er sagte nichts und Trautman fuhr mit leiser, beinahe abwesend klingender Stimme fort: »Es war auch meine Schuld. Vielleicht habe ich ein paar Mal zu oft den starken Mann herausgekehrt. Wir waren uns nie einig. Als ich mich damals entschlossen habe, bei Nemo zu bleiben, kam es schließlich zum großen Streit.«
»Er wusste davon?«
»Nicht alles, aber eine Menge, ja«, bestätigte Trautman. »Er war immerhin mein Sohn. Warum sollte ich Geheimnisse vor ihm haben? Eine Weile hatte ich sogar die Hoffnung, dass wir ... zusammenbleiben könnten.«
»Auf der NAUTILUS?«
Trautman nickte. »Ich war Ingenieur, während Thomas sich entschloss, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Natürlich faszinierten ihn die Geheimnisse der alten Atlanter und ich zeigte ihm davon, was immer ich zu verantworten können glaubte. Nicht alles – aber ich fürchte, trotzdem zu viel.«
Mike hörte schweigend zu, während Trautman von sich und seinem Sohn erzählte – wie sie gemeinsam die faszinierende Technik der NAUTILUS zu enträtseln versucht hatten, wie sie darüber spekuliert hatten, welche Wunder das untergegangene Volk der Atlanter noch hinterlassen haben mochte, wie sie zu finden sein würden und vor allem, wie man sie zum Segen der Menschheit einsetzen konnte. Mike brannten tausend Fragen auf der Zunge, aber er hütete sich, Trautman auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Er spürte genau, wie wichtig es für Trautman war, ihm all dies zu erzählen. In all den Jahren, die sie jetzt zusammen waren, hatte Trautman niemals auch nur erwähnt, dass er einen Sohn hatte. Aber während er Trautman zuhörte, wurde ihm klar, wie sehr der alte Mann darunter gelitten haben musste; und wie sehr es ihn erleichterte, nun endlich einmal darüber reden zu können.
»Der endgültige Bruch kam wohl, als ich an Bord der NAUTILUS ging«, schloss Trautman, nachdem er sicher eine halbe Stunde geredet hatte, wenn nicht länger. »Thomas wollte die Geheimnisse der Atlanter ergründen. Er suchte überall auf der Welt nach ihren Hinterlassenschaften, aber er war nicht sehr erfolgreich. Das Wenige, was von ihrer Welt übrig geblieben ist, liegt zumeist tief unter Wasser auf dem Meeresgrund. Um es zu finden, hätte er die NAUTILUS gebraucht.«
»Und die wollte Nemo ihm nicht geben«, vermutete Mike.
»Natürlich nicht. Dein Vater hat Thomas nie wirklich getraut. Damals war ich ziemlich verletzt. Heute muss ich gestehen, dass er Recht hatte.«
Er brach ab. Seine Stimme war bei den letzten Worten immer leiser geworden und der Ausdruck auf seinem Gesicht brach Mike schier das Herz. Er musste sich ein paar Mal räuspern, um überhaupt weiterreden zu können. »Und ... dann?«, fragte er.
»Wir haben uns aus den Augen verloren«, sagte Trautman. »Ein paar Mal habe ich noch etwas über ihn gehört, aber wir haben uns seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe gehört, dass er eine archäologische Laufbahn eingeschlagen hat.«
»Um auf diese Weise mehr über die Atlanter herauszufinden«, vermutete Mike.
»Ja. Und dann hat Chris diesen SOS-Ruf aufgefangen. Nachdem ich ihn übersetzt hatte, war mir sofort klar, dass Thomas endlich Erfolg gehabt hat.«
»Aber warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«, fragte Mike.
»Weil ich Angst hatte, dass genau das passiert, was jetzt auch passiert ist«, antwortete Trautman. »Was zwischen Thomas und mir ist, ist meine Sache. Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen.«
»Das sehe ich anders«, antwortete Mike. »Es ist nicht Ihre Sache. Jetzt nicht mehr, wo sie die WOTAN und ... und all das hier haben! Wir müssen sie aufhalten oder die Folgen sind unabsehbar.«
Trautman lächelte traurig. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte er. »Thomas versteht fast so viel von der Technik der alten Atlanter wie ich. Und diese Anlage hier gleicht der, in der wir damals die NAUTILUS gefunden haben. Nur dass diese hier vollkommen intakt zu sein scheint, während die Stadt auf der
Vergessenen Insel damals wenig mehr als eine Ruine war.«
»Ich verstehe«, sagte Mike, aber Trautman schüttelte den Kopf.
»Nein, du verstehstnicht«,sagte er betont. »Du machst dir anscheinend immer noch keine Vorstellung davon, was das hier ist. Mit dieser Festung und der WOTAN sind Vom Dorff und die anderen in der Lage, die Welt zu beherrschen! Und Thomas wird ihnen dabei helfen.«
»Ein Grund mehr, ihn aufzuhalten«, sagte Mike.
»Dazu ist es zu spät«, sagte Trautman traurig. »Es ist alles meine Schuld, Mike. Ich kann nur noch
versuchen, es nicht noch schlimmer werden zu lassen.« Mike verstand nicht genau, was Trautman mit diesen Worten meinte, aber sie lösten ein sehr ungutes Gefühl in ihm aus. »Was genau meinen Sie damit?«, fragte er.
Statt ihm direkt zu antworten, richtete sich Trautman etwas weiter im Bett auf und rief mit erhobener
Stimme: »Ist da irgendjemand?« Eine ziemlich überflüssige Frage, wie Mike fand. Sie wussten beide, dass vor der Tür des Krankenzimmers zwei bewaffnete Soldaten standen, die den Befehl hatten, sie zu bewachen. Einer von ihnen streckte den Kopf herein und sah Trautman wortlos und fragend an.
»Vom Dorff«, sagte Trautman. »Ich muss ihn sprechen. Es ist dringend. Sagen Sie ihm, dass ich ihm
einen Vorschlag zu machen habe.« »Was für einen Vorschlag?«, fragte Mike, kaum dass der Mann gegangen war. »Was haben Sie vor?« »Das Einzige, was mir noch übrig bleibt«, antwortete Trautman. »Du und die anderen an Bord der NAUTILUS habt nichts mit alledem zu tun. Ich will nicht, dass ihr für meine Fehler büßen müsst.«
»Was soll das heißen?«, fragte Mike scharf. »Trautman!«
Aber Trautman antwortete nicht mehr. Er sah ihn nur wortlos an und schließlich drehte er mit einem Ruck den Kopf zur Seite und starrte zu Boden, bis Vom Dorff kam. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, was Mike zu dem Schluss brachte, dass der Deutsche wohl
regelrecht darauf gewartet haben musste, von Trautman gerufen zu werden. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, begann Trautman. »Was für einen Vorschlag?«, fragte Mike noch einmal. Er schrie fast, aber sowohl Trautman als auch