Vom Dorff starrte ihn an. Seine Augen sprühten vor Hass. »Dafür werden Sie bezahlen, das schwöre ich!«
»Darf ich das als Ja interpretieren?«, fragte Trautman.
Vom Dorff nickte. »Binden Sie mich los. Niemand wird Ihnen etwas tun.«
Trautman gab Mike ein entsprechendes Zeichen, sagte aber: »Falls Sie jetzt etwa planen, uns von Ihren Leuten überwältigen zu lassen und die Lösung unseres kleinen ... Problems aus mir herauszupressen, denken Sie an zwei Dinge: Ich bin ein ziemlich sturer Mann und ein ziemlich alter Mann. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob und wie lange ich eine wirklich schlimme Folter durchstehe, ehe mein Herz aussetzt. Und Sie könnten niemals sicher sein, ob ich Ihnen auch wirklich die Wahrheit gesagt habe ... nicht vor Ablauf von sechs Stunden, meine ich.«
»Im Gegensatz zu Ihnen halte ich mein Wort«, sagte Vom Dorff wütend.
Trautman grinste. »Sie können sicher sein, dass das nicht der einzige Unterschied zwischen uns ist. Sind wir im Geschäft?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Nein«, antwortete Trautman. Er gab Mike einen Wink. »Du kannst ihn jetzt losbinden.«
Während Mike die Fesseln des Deutschen endgültig löste, drückte Trautman einen Knopf und die fingerdicke Stahlplatte vor der Tür hob sich zischend wieder in die Decke zurück. Sofort stürmten mehr als ein Dutzend Soldaten herein, die Trautman und ihn sofort und mit weitaus mehr Gewalt als notwendig überwältigten.
»Lasst das!«, sagte Vom Dorff scharf. »Lasst sie los. Sofort!«
Die Männer gehorchten, wenn auch zögernd und nicht ohne Vom Dorff verwirrt-fragende Blicke zuzuwerfen. Vom Dorff stand auf und rieb sich die Handgelenke. Die Stricke, mit denen sie ihn gefesselt hatten, hatten sichtbare rote Streifen auf seiner Haut hinterlassen. »Das ist nicht nötig«, fuhr er fort. »Das Ganze war nur ein dummes Missverständnis, nicht mehr.«
Natürlich waren die Männer jetzt vollkommen verwirrt. Aber nachdem Vom Dorff seine Worte noch einmal in schärferem Tonfall wiederholt hatte, zogen sie sich zurück.
»Zufrieden?«, fragte Vom Dorff.
»Zufrieden bin ich erst, wenn ich Mike unbehelligt aus dieser Stadt hinausspazieren sehe«, antwortete Trautman.
Vom Dorff warf einen nervösen Blick auf das Instrumentenpult, an dem sich Trautman zu schaffen gemacht hatte. »Dann sollten wir uns lieber beeilen«, sagte er. »Wir haben nicht allzu viel Zeit.«
Sie verließen den Raum. Ganz wie Mike erwartet hatte, wimmelte es draußen auf dem Gang nur so von Soldaten. »Schicken Sie sie weg«, verlangte Trautman. »Wir wollen doch kein Aufsehen erregen, oder?« Vom Dorff tat, was er verlangt hatte, und als sie ihren Weg fortsetzten, waren sie auch tatsächlich allein. Mike sah sich noch ein paar Mal aufmerksam um, während sie das Labyrinth aus Gängen und Treppenschächten durchquerten, aber sie würden tatsächlich nicht verfolgt. Es schien, als hielte Vom Dorff wirklich Wort. Erst als sie ins Freie hinaustraten, sahen sie wieder einige Soldaten, die aber einen respektvollen Abstand hielten.
»Und wohin jetzt?«, fragte Trautman.
Vom Dorff deutete mit einer Kopfbewegung auf das
geschlossene Eistor am anderen Ende des Hafenbeckens. »Dort. Es gibt nur eine kleine Tür neben dem großen Fluttor. Sie ist der einzige Ausgang aus der Stadt. In einer kleinen Kammer daneben finden wir auch warme Kleidung.«
Sie marschierten los. Mike fiel unauffällig ein kleines Stück zurück, bis er direkt neben Trautman ging. »Was haben Sie jetzt vor?«, raunte er ihm zu. »Ich meine: Wie kommen wir hier weg?«
»Wir?«Trautman schüttelte den Kopf. »Wir kommen gar nicht von hier weg, Mike.Duwirst gehen.«
»Aber –«
»Kein Aber«, unterbrach ihn Trautman, scharf und so laut, dass Vom Dorff die Worte einfach hören musste. »Wir machen es so, wie ich es gesagt habe. Du bringst dich in Sicherheit. Das ist deine einzige Chance, versteh doch! Und meine übrigens auch. Wenn du davonkommst, dann könnt ihr später versuchen mich irgendwie zu befreien. Ende der Diskussion.«
Ein hohes, immer lauter werdendes Heulen erklang, steigerte sich binnen Sekunden bis fast an die Schmerzgrenze und brach dann abrupt ab. Das Wasser des Hafenbeckens begann zu zittern und im nächsten Augenblick konnte Mike sehen, wie die Wand aus nachgemachtem Eis am anderen Ende des Hafenbeckens zu vibrieren begann und sich dann in der Mitte teilte.
»Was bedeutet das?«, fragte Trautman alarmiert.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Vom Dorff. Zumindest die Überraschung in seiner Stimme klang echt. »Jemand kommt. Ein ... Schiff. Aber ich verstehe nicht ...«
Aus der dünnen Linie in der Mitte des Fluttores war mittlerweile ein Spalt geworden, der sich rasch weiter verbreitete. Das Wasser schäumte hoch auf, als sich die beiden Torhälften immer schneller auseinander bewegten. Dahinter kam ein gewaltiges, graugrünes Etwas mit gezacktem Stachelkamm und riesigen Bullaugen zum Vorschein.
»Das ist die WOTAN!«, keuchte Trautman. »Vom Dorff, was haben Sie vor?«
»Ich verstehe das ja auch nicht!«, protestierte Vom Dorff. »Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung! Das Schiff ist vor zwei Stunden erst ausgelaufen! Irgendetwas muss an Bord vorgefallen sein!«
Mittlerweile hatten sich die Tore weit genug geöffnet, um das Schiff passieren zu lassen. Die WOTAN glitt behäbig durch die gewaltige Pforte und kam in der Mitte des Hafenbeckens zur Ruhe.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Trautman. »Vom Dorff, wenn das ein Trick ist, werden Sie ihn in weniger als sechs Stunden bereuen. Mein Sohn ist nicht in der Lage, die Kernschmelze aufzuhalten, falls Sie darauf spekulieren.«
Hinter den mannsgroßen Bullaugen im Turm der WOTAN bewegte sich ein Schatten und nur Augenblicke später öffnete sich die Luke oben am Turm und eine schlanke Gestalt in schwarzer Kleidung stieg heraus.
Nicht nur Mike zog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein, als er sie erkannte. Es war niemand anderer als Ben. Und natürlich war es die NAUTILUS.
»Ahoi, da unten!«, rief Ben fröhlich. »Wie geht's denn so?«
Eine Sekunde lang regte sich überhaupt nichts, aber dann kam plötzlich hektische Betriebsamkeit unterdie Soldaten, die ihnen in einigem Abstand gefolgt waren. Und nicht nur in sie. Überall auf Balkonen und Simsen, hinter Türen und Fenstern erschienen plötzlich Soldaten, die ihre Gewehre auf die NAUTILUS und den Jungen auf ihrem Turm richteten.
Ben zeigte sich davon allerdings nicht besonders beeindruckt. Er griff nur nach unten, und als er weitersprach, hielt er ein kleines, an einer spiraligen Schnur hängendes Mikrofon in der Hand, das seine Stimme zigfach verstärkte.
»Ich an eurer Stelle würde mir das dreimal überlegen«, donnerte er. »Auf diese Entfernung ist es nicht ganz leicht, mich zu treffen. Aber selbst wenn: Unten im Kommandoraum steht mein guter Freund Singh und er hat einen Finger auf dem Feuerknopf. Ihr wisst, was die Torpedos dieses Schiffes anrichten können. Ein einziger Schuss und wir verwandeln eure hübsche kleine Stadt in Kleinholz!«
»Das wagt er nicht!«, flüsterte Vom Dorff. »Das würde die NAUTILUS genauso vernichten.«
»Vielleicht«, sagte Trautman. »Vielleicht aber auch nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass Ben darauf Rücksicht nimmt. Er ist ein bisschen verrückt, müssen Sie wissen. Und keiner von uns würde zögern sein Leben zu riskieren, um einen der anderen zu retten. So sind wir nun einmal.«
Vom Dorff schwieg verbissen. Sein Blick tastete unsicher über die Kaimauer und die Gebäude dahinter. Die Anzahl der Soldaten war noch weiter gewachsen. Mike schätzte, dass mittlerweile mehr als hundert Waffen auf die NAUTILUS gerichtet waren.