Zuerst erschien der Anführer der Räuberbande über dem Kamm, gefolgt von den beiden gefesselten Mädchen, die mit blutenden Füßen erschöpft hinter ihm hertaumelten. Er entdeckte mich sofort und rief seinen Männern eine Warnung zu. Die Gruppe schwärmte aus, um mich zu umzingeln.
Ich erblickte den erhobenen Krummsäbel in der Hand des Anführers. Hastig löste er die Leine mit den beiden Gefangenen von seinem Sattelknopf und überließ einem seiner Männer die Aufsicht. Im Hintergrund machte ich die erbeuteten Packkaiilas aus. Die Kaiila des Anführers stieg auf die Hinterhand. Ich erkannte, daß er die Absicht hatte, mit seinem Tier durch das Zelt zu reiten, um auf diese Weise nahe genug an mich heranzukommen, auch wenn er damit seine Behausung zerstörte.
Ich hob den Wasserbeutel von seinem Haken vor dem Zelt. Einer der Männer stieß einen Wutschrei aus.
Ich hob den Beutel und trank einen tiefen Schluck. Dann steckte ich den Stöpsel zurück, hängte den Beutel wieder an Ort und Stelle und wischte mir mit dem Ärmel den Mund ab.
Der Anführer steckte seinen Krummsäbel wieder ein und stieg leichtfüßig von seiner Kaiila.
Ich kehrte zu den Matten zurück, setzte mich im Schneidersitz darauf und griff nach meinem Glas Tee, das ich noch nicht geleert hatte. Gebeugt trat er ein. »Der Tee ist fertig«, sagte ich zu ihm. Er ging in den hinteren Teil des Zelts und befreite Alyena mit dem Messer von ihren Fesseln. Sie sah ihn entsetzt an. Doch er war nicht wütend auf sie. Es ist ohne Bedeutung, wenn ein Mann eine Frau überwältigt.
»Serviere uns Tee«, sagte er.
Zitternd schenkte sie ihm ein Glas Tee ein. Seine Männer standen vor dem Zelt und verfolgten die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Der Tee ist ausgezeichnet«, versicherte ich.
Indem ich das Wasser des Lagers trank, hatte ich nach den Sitten der Tahari um die Gastfreundschaft dieser Männer gebeten.
8
Die Oase der Zwei Krummsäbel ist ziemlich abgelegen und steht unter dem Einfluß der Bakahs, die seit ihrer Niederlage im Seidenkrieg von 8110 C.A. vor über zweihundert Jahren Vasallen der Kavars waren. Im Seidenkrieg ging es um die Kontrolle bestimmter Karawanenrouten, um das Recht, reisenden Kaufleuten einen Wegezoll aufzuerlegen. Die Auseinandersetzung erhielt ihren Namen, weil zu jener Zeit zum erstenmal turische Seidenstoffe in größeren Mengen in die taharischen Gemeinden importiert wurden. Ein Wegezoll wird im allgemeinen in der Tahari nicht mehr erhoben; im Hinblick auf die Kontrolle über die Wasserstellen der Oasen ist so etwas auch gar nicht mehr erforderlich. Die Karawanen müssen diese Orte aufsuchen. In den Oasen erheben die jeweiligen Herrscher üblicherweise eine Schutzsteuer von den Karawanen, sobald sie eine bestimmte Größe erreichen. Gewöhnlich liegt die Grenze bei fünfzig Kaiila. Die Schutzsteuer dient dem Unterhalt von Soldaten, die zumindest der Absicht nach in der Wüste als Polizeigewalt fungieren. So mancher Oasenpascha stammt indes von Wüstenräubern ab. Die meisten Amtsträger im Wüstengebiet sind Nachfahren von Männern, die früher mit dem Krummsäbel in der Hand vom hohen Rücken einer Kaiila aus geherrscht hatten. Das Äußere mag sich verändern, doch in der Tahari wie anderswo hängen Ordnung, Gerechtigkeit und Gesetz letztlich von der Entschlossenheit von Männern ab und von ihren Waffen.
Es war spät in der Nacht, als wir die Oase der Zwei Krummsäbel erreichten. Die drei Monde standen hoch am Himmel. Aus der Dunkelheit eilten Männer herbei und umringten uns waffenschwingend.
»Es ist Hassan«, sagte eine Stimme.
»Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein«, bemerkte ein anderer.
»Tal«, wandte sich Hassan an den Kaufmann, der neben seinem Steigbügel stand.
»Wir haben Wasser«, sagte der Händler zur Begrüßung.
Hassan der Wüstenräuber stellte sich in seinen Steigbügeln auf, sah sich zwischen den Palmen, den Mauern aus rotem Lehm und den ummauerten Gärten um.
»Hast du Waren für mich?« fragte der Kaufmann.
»Ja«, erwiderte Hassan und setzte sich wieder. Das Mädchen, das gefesselt vor ihm quer über dem Sattel lag, wand sich und begann zu wimmern. Sie hieß Zina. Sie hatte ihre Karawane an Hassan verraten, wofür er ihr nach dem Überfall auf seine Weise gedankt hatte: er hatte sie zur Sklavin gemacht.
Das zweite Mädchen, Tafa geheißen, lag gefesselt vor einem anderen Reiter aus Hassans Gruppe. Die weichen Schenkel der beiden Mädchen waren dunkelbraun von getrocknetem Blut.
Die Lehmgebäude in einer Siedlung wie der Oase der Zwei Krummsäbel haben eine Lebensdauer von vielen Jahren. Es regnet hier nur äußerst selten. Doch wenn es schließlich tatsächlich zu Regengüssen kommt, verwandelt sich die Gegend in einen Morast. Unmittelbar nach solchen Niederschlägen erscheinen ungeheure Wolken von Sandfliegen, die aus ihrem Schlummer erwacht sind. Diese Tierchen ernähren sich vom Blut der Kaiila und der Menschen. Normalerweise sind Fluginsekten nur in der Nähe von Oasen anzutreffen. Kriechende Insekten dagegen gibt es in vielen Gegenden, oft weit vom Wasser entfernt. Der Zadit ist ein kleiner braungefiederter Vogel mit scharfem Schnabel. Wenn Sandfliegen und andere Insekten nach Regenfällen auftauchen und sich auf Mensch und Tier niederlassen, erscheint der Zadit und macht sich ans Werk. Er befreit die Kaiila von den Insekten, bringt ihnen aber dabei mit dem Schnabel zahlreiche Wunden bei, die sehr unangenehm sein können. Die kleinen Wunden entzünden sich oft und werden zu Schwielen, die von den Treibern mit frischem Kaiiladung behandelt werden.
»Vor sechs Tagen«, sagte der Kaufmann, »haben Soldaten der Aretai aus der Oase der Neun Brunnen die Oase des Sand-Sleen überfallen.«
Seine Worte verblüfften mich. Ich blickte mich um. Man sah selbst im Mondlicht, daß Kaiila durch die Gärten galoppiert waren. Zwei Mauern waren eingestürzt. Ich zählte elf umgestürzte Dattelpalmen; die Stämme lagen auf dem Boden, die Blätter waren eingetrocknet, die Früchte unausgereift. Es dauert Jahre, bis so ein Baum Früchte trägt.
»Gestern nacht haben sie uns angegriffen«, fuhr der Mann fort. »Doch wir konnten sie abwehren.«
»Die Aretai sind Sleen!« bemerkte Hassan.
Ich wunderte mich, daß er so heftig auf die Nachricht reagierte; immerhin war er nur ein Bandit.
»Sie haben einen Brunnen zerstört«, sagte der Kaufmann. Diese Worte lösten ein tiefes Schweigen aus. Hassan stieß nicht einmal einen Wutschrei aus.
Dann sagte er gepreßt: »Mach keine Scherze!«
»Ich scherze nicht«, erwiderte der Kaufmann.
»Die Aretai sind Sleen«, fuhr Hassan fort, »doch sie stammen aus der Tahari. Und Männer der Tahari zerstören keine Brunnen.«
»Der Brunnen ist zerstört«, stellte der Händler fest, »willst du ihn dir ansehen?«
»Nein«, sagte Hassan.
»Wir versuchen im Augenblick Steine und Sand herauszuholen«, sagte der Kaufmann.
Hassans Gesicht war bleich.
Jemand, der nicht aus der Tahari stammt, kann sich gar nicht vorstellen, wie schwerwiegend die Zerstörung einer Wasserstelle ist. Eine solche Tat gilt als ein unvorstellbares Verbrechen, als die schlimmste Untat, die man in der Wüste überhaupt begehen kann. Sie übertrifft alles, was an feindlichen Handlungen begangen werden kann. Zweifellos würde sich innerhalb weniger Tage die Nachricht verbreiten, daß die Aretai in der Oase der Zwei Krummsäbel einen Brunnen zerstört oder einen entsprechenden Versuch unternommen hatten und diese Nachricht würde die Wüstenbewohner von Tor bis zum letzten turischen Handelsposten in Harnisch bringen. Dieser Angriff gegen die Bakahs in der Oase der Zwei Krummsäbel, einen Vasallenstamm der Kavars, konnte den totalen Krieg in der Tahari auslösen.