»Dort ist eine Oase!« rief ich gegen Mittag des nächsten Tages.
»Nein«, sagte Hassan.
»Ich sah die weißen Gebäude, die Kuppeldächer, die Palmen und Gärten, die hohen Stadtmauern aus rotem Lehm.
Ich blinzelte. Das Bild kam mir nicht wie eine Illusion vor. »Siehst du sie denn nicht?« fragte ich Hassan und die anderen.
»Ich sehe sie!« erwiderte Alyena.
»Wir alle sehen das Bild«, sagte Hassan. »Aber es ist nicht vorhanden.«
»Du sprichst in Rätseln«, sagte ich.
»Es handelt sich um eine Spiegelung«, behauptete er.
Ich sah mir die Erscheinung genauer an, die wirklich nicht wie eine Spiegelung aussah. Ich kannte zwei Arten von Spiegelungen in der Wüste, wie sie ab und zu von normalen Menschen wahrgenommen werden; ich meine nicht die Irrbilder eines ausgetrockneten Körpers und von der Sonne verwirrten Geistes, nicht die ureigenen Halluzinationen eines solchen leidenden Wüstenreisenden. Bei der gewöhnlichsten Spiegelung handelt es sich lediglich um eine visuelle Fehlinterpretation als Folge von Hitzewellen, die über der Wüste wogen. Wenn der Himmel in der emporsteigenden erhitzten Luft reflektiert wird, fällt das Abbild womöglich noch täuschender aus, denn die Oberfläche des eingebildeten ›Sees‹ wirkt in der Spiegelung des Himmels blau und deshalb noch wasserähnlicher. Eine zweite oft vorkommende Spiegelung ist die Interpretation eines gemischten Terrains, gewöhnlich Gestein und Unterholz, das sich in den emporsteigenden Hitzewellen als Oase mit Wasser, Palmen und Gebäuden darbietet. Jede Sinneswahrnehmung ist eine ziemlich komplizierte Sache es handelt sich um die Einwirkung von Energien auf Sinnesorgane, und um die Umwandlung dieser Energien in eine interpretierbare visuelle Welt. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß in der Wüste eine gesunde, normale Person solche Einwirkungen fehlinterpretiert und aus Lichtenergien, die über einer erhitzten Oberfläche aus Gestein und Unterholz reflektiert werden, eine ganze Oase mit Gebäuden und Bäumen erstehen läßt.
Doch das Bild, das ich in der Ferne erblickte, schien in seiner Klarheit absolut real zu sein. Ich drehte den Kopf hin und her. Ich schloß und öffnete die Augen.
»Nein«, sagte ich. »Ich sehe sie ganz deutlich die Oase der Schlacht am Roten Felsen, die unser Ziel ist.«
»Aber dort ist nichts«, sagte Hassan.
»Besitzt die Oase des Roten Felsens am Nordostrand eine Kasbah mit vier Türmen?«
»Ja.«
»Dann sehe ich diese Oase!«
»Nein«, sagte Hassan.
»Ich kann fünf Palmenhaine ausmachen.«
»Ja.«
»Im Osten der Oase liegen Granatäpfelgärten«, fuhr ich fort. »Im Innern erstrecken sich Gärten. Zwischen zwei Palmenhainen liegt sogar ein Teich.«
»Das stimmt alles«, sagte Hassan gelassen.
»Vor uns liegt die Oase des Roten Felsens!«
»Nein«, widersprach Hassan.
»Ich kann mir das doch nicht alles einbilden!« sagte ich. »Ich bin noch nie in der Oase des Roten Felsens gewesen. Schau doch! Die Kasbah hat ein großes Tor, das uns zugewendet ist. Auf den Türmen wehen zwei Flaggen.«
»Wimpel der Tashid und der Aretai.«
»Wir reiten um die Wette zur Oase!« sagte ich.
»Sie ist nicht vorhanden«, sagte er. »Wir treffen erst morgen nachmittag dort ein.«
»Ich sehe sie doch!«
»Ich will mich klar äußern«, sagte Hassan. »Du siehst sie, und doch siehst du sie nicht.«
»Ich freue mich, daß du dich zu einem klaren Wort entschlossen hast trotzdem verstehe ich nichts.«
»Reite doch weiter«, meinte Hassan.
Achselzuckend grub ich meiner Kaiila die Hacken in die Flanken und lenkte sie den Hang hinab auf die Oase zu. Ich war kaum fünf Ehn geritten, als die Oase plötzlich verschwand. Ich zügelte das Tier. Vor mir erstreckte sich nichts als die Wüste.
Ich schwitzte. Es war heiß. Vor mir lag die endlose Tahari.
»Ein interessantes Phänomen, nicht wahr?« erkundigte sich Hassan, als er und die anderen zu mir stießen. »Die Oase wird in einem Spiegel aus Luft darüber reflektiert.«
»Wie von Spiegeln?« fragte ich.
»Richtig«, sagte Hassan. »Die Luftschichten wirken sich wie Spiegel aus. Ein Dreieck aus reflektiertem Licht bildet sich. Dabei ist die Oase der Schlacht am Roten Felsen noch siebzig Pasang entfernt.«
»Woher wußtest du, daß das alles nur eine Spiegelung war?« wollte ich wissen.
»Ich bin in der Tahari geboren«, sagte er.
»Aber woher wußtest du, daß es eine Reflexion und nicht die wirkliche Oase war?«
»Ich kenne die Entfernungen«, erwiderte er. »Wir waren noch nicht so weit geritten, daß wir dicht vor unserem Ziel sein konnten.«
»Jemand, der nicht aus der Tahari stammt, hätte bei diesem Anblick sein Wasser falsch einteilen und damit sein Leben riskieren können.«
»In der Tahari ist es ratsam, ein Mann der Tahari zu sein«, sagte Hassan, »sonst ist das Überleben sehr schwer.«
»Ich will versuchen, ein Mann der Tahari zu sein«, sagte ich.
»Dabei werde ich dir helfen«, sagte Hassan.
Erst am nächsten Tag, zur elften Ahn, eine Ahn nach der goreanischen Mittagsstunde, trafen wir in der Oase des Roten Felsens ein. Über der Stadt ragte die Kasbah des Herrschers Turem a’Din auf, der Befehlshaber des hiesigen Tashid-Klans war. Die Oase besaß fünf Palmenhaine. Im Osten der Oase lagen Granatäpfelgärten. In den tieferen Sektionen, zur Mitte hin, erstreckten sich Privatgärten. Zwischen zwei Hainen aus Dattelpalmen befand sich ein großer See. Die Kasbah verfügte über ein großes Tor, und auf den vier Türmen wehten Wipfel mit den Symbolen der Tashid und der Aretai.
»Hast du Angst, die Oase eines mit den Aretai verbündeten Stammes zu betreten?« fragte Hassan.
»Wir kommen von der Oase der Neun Brunnen«, sagte ich.
»Auch ich nehme nicht an, daß wir in Gefahr schweben«, meinte Hassan.
Nach Art einer Karawane ritten wir hintereinander in die Oase ein. Alyena ritt als vorletzte in der Kolonne; einer von Hassans Männern folgte ihr, der Schlußwächter, der die Landschaft hinter der Karawane im Auge behalten und darauf achten muß, daß keine Sklavinnen entfliehen. Die Oase vor uns hatte ihren Namen nach der Schlacht am Roten Felsen, bei dem es sich um einen Vorsprung aus rötlichem Sandstein hinter der Oase handelt. Die Felsformation diente dem Kommandanten der Aretai, Hammaran, als Aussichtspunkt. Von diesem Felsen aus schickte er im entscheidenden Stadium der Schlacht seine sorgfältig geschulte Kavallerie und seine Leibwächter in den Kampf und führte damit die Entscheidung zu seinen Gunsten herbei. Der Tashid-Kommandant jener Tage, Ba’Arub, starb auf der Sandsteinhöhe bei dem Versuch, Hammaran zu töten. Es heißt, er sei bis auf zehn Meter an sein Ziel herangekommen. Außerdem wird behauptet, daß er hätte siegen können, wenn er nur lange genug in seiner Kasbah ausgehalten hätte, denn Hammaran hätte sich nach einer gewissen Zeit zurückziehen müssen. Es ist schwierig, in der Tahari eine langwierige Belagerung durchzuhalten. Bei den Belagerern werden die Nahrungsmittel schnell knapp, während die Vorräte einer Kasbah für längere Zeit berechnet sind. Die Nachschublinien sind lang und lassen sich kaum verteidigen. Hätte Ba’Arub die Brunnen außerhalb der Kasbah zerstören lassen, hätte Hammaran innerhalb von vierundzwanzig Stunden abrücken müssen, wobei er vermutlich auf dem Rückmarsch den größten Teil seiner Männer verloren hätte. Aber da er ein Abkömmling der Tahari war, wollte sich Ba’Arub den Überlieferungen zufolge auf eine solche Handlungsweise nicht einlassen. So wird nun von ihm berichtet, daß er vor seinem Tod bis auf zehn Meter an Hammaran herangekommen sei.