»Hier scheint der Stahlturm unbekannt zu sein.«
In der Tat schien es sich in der Oase des Roten Felsens noch nicht herumgesprochen zu haben, daß eine Gruppe Aretai vor einigen Tagen die Bakah-Oase der Zwei Krummsäbel angegriffen haben sollte. Niemand sprach davon. Wäre der Zwischenfall bekannt gewesen, hätte man ihn sicher gründlich diskutiert. Offenbar wußte in der breiten Bevölkerung niemand davon. Wären wirklich Aretai dafür verantwortlich gewesen, hätte sich die Oase auf Vergeltungsmaßnahmen der Kavars vorbereitet.
Im Grunde war es nicht ungewöhnlich, daß die Wüstenbewohner am Roten Felsen noch nichts von dem Angriff wußten - die Nachricht war noch nicht in diesen entlegenen Winkel der Tahari vorgedrungen. Da die Oase der Schlacht am Roten Felsen unter der Verwaltung der Tashid stand, eines Vasallenstammes der Aretai, stand natürlich nicht zu erwarten, daß ein Bakah oder ein anderes Mitglied der Kavargemeinschaft einen Freundschaftsbesuch machte und die Neuigkeit überbrachte - im Gegenteil. Die Kavars würden es darauf anlegen, die von den Aretai beherrschten Gebiete zu meiden, bis man zumindest eine ausreichend große Streitmacht beisammen hatte, die den Aretai und ihren Verbündeten mit Waffengewalt die Aufwartung machen konnte.
»Ich bin erschöpft«, sagte Hassan. »Ich gehe zu Bett.« Alyena hatte er bereits nach oben geschickt. Seine Männer wohnten ebenfalls im Obergeschoß. »Wie spät ist es?« fragte er und sah sich um. Einer der Schänkenjungen saß auf einer Bank in der Nähe der großen zylindrischen Sanduhr. Er warf einen Blick auf die Anzeige. »Die neunzehnte Stunde durch«, sagte er und gähnte. Er mußte bis zur zwanzigsten Stunde aufbleiben, der goreanischen Mitternacht. In jenem Augenblick war es seine Aufgabe, die Uhr zu wenden. Erst dann durfte er ebenfalls schlafen gehen.
»Sind die Herren mit meinem Haus zufrieden?« erkundigte sich der Schänkenwirt.
»Ja«, erwiderte Hassan und hob den Kopf. »Es kehren Soldaten zurück.«
Ich spitzte die Ohren. Mir war kein Geräusch aufgefallen. Offenbar hatte er die leichten Vibrationen mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte wahrgenommen.
Erst nach einigen Sekunden vernahm ich das Dröhnen galoppierender Kaiila.
»Von uns sind keine Soldaten unterwegs«, sagte der Wirt. Hassan sprang auf und warf dabei den Tisch um. Mit riesigen Sätzen rannte er die Treppe hinauf und verschwand im Obergeschoß.
»Geh nicht an die Fenster!« rief ich.
Doch schon hatte der Wirt die Fensterläden geöffnet. Ich hörte Hassan oben brüllen. Schritte trappelten. Der Wirt wandte sich mit bleichem Gesicht in meine Richtung; im nächsten Augenblick sank er zu Boden, wobei er den Schaft des Pfeils abbrach, der in seiner Brust steckte.
»Kavars über alles!« brüllte eine Stimme.
Ich hastete zum Fenster und stach mit dem Krummsäbel nach einer Gestalt im Burnus, die sich draußen zu schaffen machte. Ein Schrei ertönte, der Schatten zuckte zurück, verschwand in der Dunkelheit. Ich hob die Arme, um die Läden zu schließen. In der gleichen Sekunde bohrten sich zwei Pfeile tief in das Holz; Splitter trafen mich schmerzhaft an der Wange. Doch schon hatte ich die Läden zugezogen und gesichert; ein dritter Pfeil bohrte sich halb durch das Holz. Der Schänkenjunge stand neben der Sanduhr und sah sich verzweifelt um. Wir hörten die Pfoten der Kaiila, vernahmen ihr Quieken, ihr heftiges, zischendes Atmen. Ich hörte einen Mann aufschreien. Irgendwo zersplitterte eine Tür; das Geräusch schien allerdings nicht aus dem Wirtshaus zu kommen.
»Kavars über alles!« brüllte einer der Angreifer.
»Nach oben!« rief Hassan. »Auf das Dach!«
Ich eilte die Treppe hinauf, wobei ich vier Stufen auf einmal nahm. Der entsetzte Schänkenjunge floh durch eine Tür in die Küche. Bleich stand Alyena zwischen Hassans Männern.
»Folgt mir«, befahl Hassan. Andere Gäste der Schänke stürzten nach unten. Eine Frau kreischte.
Wir erstiegen eine schmale Leiter und öffneten eine Falltür, die auf das Dach hinausführte. Gleich darauf standen wir unter den drei goreanischen Monden. Die Wüste schimmerte hell. Unter uns in den Straßen hasteten Menschen hin und her; einige hatten sich mit Bündeln und Wertgegenständen beladen.
»Zur Kasbah!« rief ein Mann. »Bringt euch in der Kasbah in Sicherheit!«
Zwischen den Fliehenden ritten Krieger. Sie hieben um sich und machten auf diese Weise einen Weg für ihre Tiere frei.
»Kavars über alles!« brüllten sie.
»Kavars!« rief ich.
Hassan sah mich zornig an. »Zum Stall«, rief er. Wir hasteten über das Dach zum Stall-Innenhof, der von Mauern und Gebäuden umschlossen war. Er gab seine Befehle. Sättel wurden geholt, zwei Männer sprangen vom Dach in die Tiefe, richteten sich wieder auf und eilten zu den Ställen. Am Himmel über den Palmen erschien ein Brandpfeil. Ich hörte Axthiebe. Auf der anderen Seite der Mauer brüllten zahlreiche Stimmen durcheinander. Wir hörten die Schänkentür nachgeben. Im Hof unter uns führten Hassans Leute einige Kaiila an den Zügeln herbei. »Achtet auf die Falltür«, sagte Hassan zu einem seiner Wächter. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich die Dachklappe, und das Gesicht eines Mannes erschien. Hassans Wächter stach mit dem Krummsäbel zu, zerrte die Waffe wieder frei und knallte die Tür zu; an seiner Klinge klebten Blut und Zähne.
»Zur Kasbah!« rief ein Mann unter uns in der Straße.
»In die Wüste!« schrie eine Frau. »Die Kasbah ist bereits verschlossen! Am Tor sterben die Menschen. Sie werden niedergemetzelt, während sie noch um Einlaß flehen!«
»Feuer!« brüllte ich.
Ein Pfeil war im Hof niedergegangen. Mühelos hatte er sich durch das Strohdach eines Lagerschuppens gebohrt. Ein Mann kletterte über das Tor des Stallhofs. Von einer Lanze getroffen, stürzte er zurück. Hassans Männer paßten auf. Das brennende Dach erhellte das Innere des Hofs. Die Kaiila begannen vor Angst zu wimmern. Hassans Männer streiften den Tieren Burnusse über die Köpfe. Zwei waren bereits gesattelt.
»Achtung, dort!« brüllte ich. Zwei Angreifer waren von ihren Kaiila auf das Dach gestiegen. Hassan und ich traten ihnen energisch entgegen und zwangen sie, über die Kante in die Gasse zu springen, in der sich Flüchtlinge und Kavars drängten. Ich sah eine Dattelpalme umstürzen. Vier Gebäude brannten bereits.
Unter uns schrie eine Frau.
Weitere Reiter drängten sich waffenschwingend unter uns vorbei. »Nach Kleidung und Sätteln handelt es sich um Kavars«, stellte Hassan fest. Vom Dach sahen wir Männer, Frauen und Kinder, die zwischen den Palmenhainen und Gärten herumliefen.
Ein fünftes Gebäude ging in Flammen auf, diesmal zu unserer Linken. Rauchgeruch stieg mir in die Nase. »Die Schänke brennt ebenfalls«, sagte ich.
»Tarna!« brüllten die Fremden. »Tarna!«
Hassan ging zum Rand der Mauer und starrte in die Flammenhölle des Stallhofs hinab. »Folgt ihnen!« brüllte er seinen Männern auf dem Dach zu und deutete auf die beiden Männer im Hof. Sie sprangen über die Kante in die Tiefe. Hastig sattelten sie ihre Kaiila. Um den Rand der Falltür zog sich ein glühender Streifen; das Feuer mußte schon unter dem Dach toben.
Hassan zerrte sich den Burnus vom Leib, legte ihn Alyena unter die Arme und ließ sie vom Dach hinab. Einer seiner Männer, der auf dem Rücken einer Kaiila saß, nahm das Mädchen vor sich in den Sattel. Alyena blickte verzweifelt zu Hassan empor. »Herr!« rief sie. Doch er war bereits verschwunden.
Wir hasteten wieder zum anderen Rand des Daches und sahen dort weitere Reiter eintreffen. Ganze Gruppen drängten in die Oase, sorgfältig verteilt es mußten Hunderte von Kavars sein.
»Auf mein Zeichen«, sagte Hassan, »sollen die Männer das Hoftor öffnen und losreiten!«
Ich ging zum Innenrand des Daches und entdeckte den Mann, der Alyena aufgefangen hatte. Das Mädchen saß inzwischen auf einer eigenen Kaiila, die zwischen den anderen Tieren eingekeilt war.
»Ich gebe Hassans Signal weiter«, sagte ich. »Auf ein Zeichen hin ergreift ihr die Flucht!«
»Zwei Kaiila sind für euch gesattelt«, sagte der Mann und deutete auf die Tiere. »Haltet euch bereit, das Tor zu öffnen«, sagte er dann zu zwei Kameraden, die sich links und rechts vom Durchgang postierten. Jeder sollte einen der Balken herausziehen.