Die auf dem Marsch nach Klima verwendeten Hauben besitzen eine winzige Klappe am Mund, die durch eine kurze Lederschnur gesichert wird. Mehrmals am Tag wurde diese Klappe geöffnet, und der Schnabel eines Wasserbeutels wurde hineingeschoben. Die Gefangenen wurden zweimal am Tag mit Nahrung versorgt, einmal am Morgen, einmal am Abend; bei den Mahlzeiten wurde die Haube geöffnet und einige Zentimeter hochgeschoben, um das Essen zu ermöglichen. Die Nahrung wurde den Gefangenen in den Mund geschoben in erster Linie getrocknete Früchte, Kekse und ein wenig Salz, zum Ausgleich der Salzverluste während des Tages. Proteine, Fleisch, Kaiilamilch, Volueier, Verrkäse erfordern bei der Verdauung viel Wasser. Ist das Wasser dagegen knapp, verzichten die Nomaden auf das Essen. Es dauert Wochen, bis man an Hunger stirbt, doch nur zwei Tage, um in der Tahari am Wassermangel zugrunde zu gehen. Unter solchen Umständen legt man keinen Wert darauf, daß die Verdauung dem Körper zuviel dringend benötigtes Wasser entzieht. Das wäre ein zu schlechter Handel. Ibn Saran hatte seine Kaiila in Hassans Richtung gedreht. Er musterte meinen Freund eine Zeitlang und sagte schließlich: »Es tut mir leid.«
Hassan antwortete nicht. Ibn Sarans Worte hatten mich erstaunt sprach er doch mit Hassan, einem Banditen. Schließlich zog Ibn Saran seine Kaiila weiter herum und machte Anstalten, die Kette zu verlassen.
»Ibn Saran«, sagte ich.
Er zögerte und lenkte die Kaiila an meine Seite. Die Männer mit den Sklavenhauben waren inzwischen ganz in meiner Nähe.
»Die Sklavenflüge der KuriiAgenten von der Erde nach Gor haben aufgehört«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Kommt dir das nicht seltsam vor?«
Er zuckte die Achseln.
»Die Priesterkönige«, fuhr ich fort, »haben ein Ultimatum erhalten. ›Gebt Gor auf!‹«
»Das ist mir bekannt.«
»Könntest du dieses Ultimatum näher erläutern?«
»Leider kenne ich die militärischen Planungen der Kurii nicht.«
»Was ist deine Aufgabe in der Wüste?«
»Ich muß mich um die Belange der Kurii kümmern. Mein Ziel war es, zwischen den Kavars und den Aretai und ihren Vasallenstämmen einen Krieg anzuzetteln, damit die Wüste für Fremde geschlossen würde.«
»Beispielsweise für Agenten der Priesterkönige?«
»Sie und alle anderen sind zur Zeit im Dünenland nicht gern gesehen«, sagte er.
»Könnten deine Männer das Dünenland nicht wirksam abschirmen?«
»Dazu sind wir zu wenige«, sagte er. »Das Risiko, daß Fremde durch unser Netz schlüpften, wäre zu groß.« In der goreanischen Sprache wird der Fremde und der Feind mit demselben Wort bezeichnet.
»Ihr wollt also die Wüste in eure Pläne einbeziehen.«
»Ohne es zu wissen«, sagte er, »machen sich in diesem Augenblick viele tausend Krieger daran, meinem Willen zu folgen indem sie sich nämlich gegenseitig an die Gurgel fahren.«
»Dabei werden viele sterben!« rief Hassan. »Kavars wie auch Aretai und zahlreiche Angehörige der Vasallenstämme! Das darf nicht sein! Man muß sie warnen.«
»Leider geht es nicht anders«, sagte Ibn Saran zu ihm. »Tut mir leid.«
In diesem Augenblick wurde Hassan eine Sklavenhaube über den Kopf gestülpt. Seine Fäuste waren geballt. Die Haube wurde unter seinem Kinn geschlossen. »Man erringt einen Sieg«, sagte Ibn Saran, »doch zugleich verliert man einen Feind.« Er sah mich an und zog seinen Krummsäbel.
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte nach Klima marschieren.«
»Ich bin bereit, dir Gnade angedeihen zu lassen, Kamerad«, sagte er.
»Nein.«
»Du bist ein Krieger«, sagte er. »Du besitzt die Dummheit und den Mut dieser Kaste.«
Er hob grüßend den Krummsäbel. »Also gut, marschiere nach Klima.« Er steckte die Klinge zurück und riß seine Kaiila herum. Dann ritt er mit wehendem Burnus an der Kette entlang.
Hamid, der Leutnant Shakars, der jetzt den roten Sandschleier eines Wächters der Dünen trug, tauchte hinter mir auf. »Ich reite mit der Kette«, sagte er.
»Deine Gesellschaft wird mir ein Quell der Freude sein«, versicherte ich.
»Du wirst meine Peitsche zu spüren bekommen.«
Ich sah die knienden Kaiila der Wächter, die in die Sättel stiegen. Ich zählte die Tiere mit Wasserbeuteln. »Klima muß ganz in der Nähe liegen«, sagte ich.
»Im Gegenteil es ist sehr weit.«
»Dafür haben wir nicht genug Wasser mit«, stellte ich fest.
»Wir haben mehr als genug«, erwiderte er. »Viele Männer werden Klima ohnehin nicht erreichen.«
»Soll ich Klima erreichen?«
»Ja wenn du kräftig genug bist.«
»Wenn nun unterwegs überraschende Schwierigkeiten auftreten?«
»Dann sehe ich mich leider gezwungen, dich an der Kette umzubringen.«
»Ist es wichtig, daß ich Klima erreiche?« wollte ich wissen.
»Ja«, erwiderte Hamid.
»Warum?«
»Du hast den Kurii und ihren Agenten viel Ärger gemacht. Du hast dich ihrem Willen widersetzt. Deshalb sollst du, Tarl Cabot, in Klima arbeiten. Schau!« fuhr Hamid fort und deutete auf ein schmales Fenster in der Mauer.
An dem Fenster stand in einem gelben Kleid eine Sklavin. Auf Befehl des Sklavenmeisters, der hinter ihr stand, hob sie anmutig ihren Schleier. Es war Vella. »Erinnerst du dich an diese Sklavin?« fragte Hamid. »An Vella, die den Kurii so nützlich war und die vor dem Gericht der Neun Brunnen gegen dich aussagte, die dich durch ihre falsche Aussage schon damals zu den Gruben von Klima zu schicken versuchte?«
»Ich erinnere mich an sie«, sagte ich. »Sie ist das Eigentum Ibn Sarans.«
Das Mädchen blickte hochmütig auf mich herab; sie schien ihren Triumph zu genießen.
Vella griff unter ihr Seidengewand, nahm ein kleines Stück Seide zur Hand und warf es mir durch das Fenster zu. Der Stoff landete einige Fuß von uns entfernt im Sand.
»Bring es uns«, sagte Hamid zu einem Mann.
Der Wächter griff nach dem Stoff, roch daran und reichte uns lachend das Tuch.
Hamid hielt es mir hin. Der Stoff war mit Sklavenparfüm durchtränkt.
»Die Gabe eines Sklavenmädchens«, sagte Hamid verächtlich und stopfte mir das Tuch hinter den Kragen.
Ich blickte zu dem Mädchen empor, das gegen mich ausgesagt hatte. Wie sehr sie ihre kleinkarierte weibliche Rache genoß! Wie töricht sie doch war! Wußte sie nicht, daß sich unter meiner Haut ein echter Goreaner verbarg? Ahnte sie nicht, daß ich eines Tages zurückkehren würde?
Ich faßte den Entschluß, Klima zu überleben.
»In Klima sollst du an sie denken«, sagte Hamid.
»Ja.«
Ich würde an sie denken; so schnell konnte ich sie nicht vergessen. Ich würde sie mir kaufen. Sie demütigen. Sie würde es spüren, der Gunst eines Tarl Cabot verlustig gegangen zu sein.
Ich roch noch einmal das Sklavenparfum und lächelte vor mich hin. Als ich noch einmal zu dem Fenster emporblickte, war es leer. Hamid griff nach einer Sklavenhaube. Ich sah den graugefärbten Himmel, die untergehenden Monde, die Wüste und im nächsten Augenblick wurde mir die Haube über den Kopf gezogen und zugebunden.
Angekettet, blind, halb dahingezerrt, halb taumelnd, so mühten wir uns den langen Hang hinauf. Die Zeit maß sich nach Schritten, nach Peitschenschlägen, nach der langsamen Wanderung der Sonnenhitze von einer Schulter zur anderen.
Seit zwanzig Tagen marschierten wir nun schon. Einige hatten längst den Verstand verloren und plapperten sinnloses Zeug vor sich hin. Wir wußten nicht, wie viele von zweihundertfünfzig noch übrig waren. Normalerweise ist man während des Tages in der Wüste nicht unterwegs, doch der Marsch nach Klima findet in der Sonne statt, damit nur die Kräftigsten das Ziel erreichen. Wir bekamen wenig zu essen, doch viel Wasser. In der Wüste sterben selbst die Kräftigsten, wenn sie kein Wasser bekommen.