»Wo bist du?« keuchte er. »Die Kapitänskajüte! Wo ist sie? Schnell!«
Am Ende des Ganges, antwortete Astaroth. Auf der linken Seite... oder auf der rechten... Ich weiß nicht. Das Ding drehte sich ja andauernd!
Mike schaltete den Scheinwerfer ein, der am Helm seines Taucheranzuges angebracht war, und betrat vorsichtig den Gang. Ebenso wie der Rest des Schiffes bot er einen unheimlichen Anblick. Boden und Wände hatten ihre Plätze getauscht, und auch hier drinnen war alles vollkommen verwüstet.
Endlich erreichte er das Ende des Ganges. Es gab zwei Türen; da das Schiff auf der Seite lag, eine im Boden und eine in der Decke. Beide waren geschlossen. Mike ließ sich behutsam in die Knie sinken, tastete nach dem Riegel und zog ihn mit einiger Mühe auf. Um ein Haar wäre er kopfüber in die Tiefe gestürzt. Die Tür öffnete sich nach innen, was bedeutete, daß sie wie eine Falltür unter ihm wegsackte und Mike buchstäblich im allerletzten Moment Halt am Türrahmen fand. Natürlich hatte er die falsche Kajüte erwischt. Es war nicht die Tür, hinter der Astaroth gefangen war. Aber was Mike im grellen Licht seines Helmscheinwerfers sah, das ließ ihn vor Schrecken aufschreien. Der Raum war ebenso verwüstet wie der Rest des Schiffes. Sämtliche Möbel waren losgerissen und zu einem einzigen, gewaltigen Trümmerhaufen verkeilt, und inmitten dieses Durcheinanders befanden sich zwei Menschen. Sie mußten am Tisch gesessen haben, als der Tod sie ereilte, denn ihre versteinerten Körper waren in sitzender, leicht nach vorne gebeugter Haltung erstarrt; der eine hatte die Ellbogen auf einer nicht mehr vorhandenen Tischplatte abgestützt und das Kinn auf die Hände gelegt, der andere hielt noch den abgebrochenen Henkel einer Kaffeetasse in der Hand. Es war ein furchtbarer Anblick.
Und es wird vielleicht das letzte sein, was du in diesem Leben siehst, wenn du dich nicht ein bißchen beeilst, sagte Astaroth.
Mike riß sich fast gewaltsam von dem schrecklichen Bild los, stand auf und trat einen Schritt von der Tür zurück, ehe er den Kopf in den Nacken legte und nach oben sah. Der Gang war gottlob nicht sehr breit, so daß er die Tür mit ausgestreckten Armen erreichen konnte. Das Schloß ließ sich mit einem simplen Handgriff öffnen, aber es gelang ihm nicht, sie aufzudrücken. Irgend etwas Schweres blockierte sie. Mike spreizte die Beine, um festen Stand zu haben, preßte die Handflächen gegen die Tür und drückte erneut und diesmal mit aller Kraft. Die Tür bewegte sich, zwar nur ganz langsam, aber sie bewegte sich. Mike drückte noch fester. Also, ich an deiner Stelle würde das nicht - begann Astaroth.
Was er noch sagte, hörte Mike nicht mehr. Die Tür gab mit einem Ruck nach, und in der nächsten Sekunde duckte er sich unter einer wahren Sturmflut von Möbeln, Trümmerstücken, Büchern, Geschirr, nautischen Instrumenten und zerbrochenem Holz, die auf ihn herunterstürzte. Dem Großteil dieses überraschenden Bombardements konnte er ausweichen, aber als er schon glaubte, es überstanden zu haben, stürzte etwas Riesiges, Graues auf ihn herab, und Mike fühlte sich wie von einem unsichtbaren Faustschlag getroffen und von den Füßen gerissen. Etwas preßte ihn wie ein Tonnengewicht zu Boden. Einen Moment lang bekam er überhaupt keine Luft mehr, und rote und grüne Punkte begannen vor seinen Augen zu kreisen. Als er wieder sehen konnte, blickte er in ein steingraues Gesicht.
Mike schrie vor Entsetzen auf. Die schiere Angst gab ihm die Kraft, den versteinerten Körper von sich herunterzustemmen und auf die Füße zu springen. Die Gestalt prallte gegen die Wand und zerbrach in mehrere Teile. Mike wandte entsetzt den Blick ab. »Astaroth«, murmelte er. »Wo bist du?« Er bekam keine Antwort, aber einen Moment später tauchte der Kater in der offenen Tür über ihm auf. Zähne und Klauen hatte er in ein schweres, ledergebundenes Buch gegraben, das beinahe größer war als er selbst.
»Was treibst du da?« fragte Mike. »Bist du wahnsinnig? Wir müssen hier weg!«
Du wolltest doch das Logbuch haben, antwortete Astaroth. Oder soll das alles hier umsonst gewesen sein? Und jetzt hör auf zu meckern und hilf mir lieber! Mike griff rasch zu, schob das Buch unter seinen Gürtel und wandte sich hastig um. Das Schiff zitterte und bebte immer noch. Mike hörte ein tiefes, ununterbrochenes Rumpeln und Poltern, das tief aus dem Rumpf des Schiffes heraufdrang, aber auch einen Laut, der ihm viel mehr Angst einflößte: das Knirschen von Stein, der allmählich unter einem unerträglichen Druck zerbrach.
So schnell es in dem unförmigen Taucheranzug möglich war, lief er auf den Ausgang zu. Das Schiff neigte sich immer weiter zur Seite, so daß er die letzten Schritte wie ein Hochseilartist balancieren mußte.
Schnell! kreischte Astaroth. Er bricht! Mike schaffte es im letzten Moment. Er konnte fühlen, wie der Felsen tief unter seinen Füßen zerbrach, erreichte mit einem letzten, großen Schritt die Tür und stieß sich mit aller Kraft ab. Mit weit ausgebreiteten Armen glitt er ins Wasser hinaus, während das Schiffswrack unter ihm mit einer fast majestätisch anmutenden Bewegung zur Seite kippte und dann zusammen mit einem Großteil des Felsvorsprungs lautlos in die bodenlose Tiefe zu stürzen begann. Mike begann verzweifelt Schwimmbewegungen zu machen. Der Taucheranzug, der eigentlich viel mehr ein Unterwasserpanzer war und zu einem Gutteil aus dickem Leinengewebe, Eisen und Kupfer bestand, drohte ihn in die Tiefe zu reißen, und der Sog des abstürzenden Schiffes tat ein übriges, um ihn von der rettenden Felswand wegzuzerren. Mikes Finger glitten über brüchigen Stein, der unter seinen Handschuhen zerbröckelte, und für einen Moment war er hundertprozentig davon überzeugt, abzustürzen und dem Schiff auf seinem Sturz ins Nichts zu folgen, aber dann fanden seine Hände doch noch Halt. Mit aller Kraft klammerte er sich fest, biß die Zähne zusammen und zog sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand in die Höhe, bis es ihm schließlich gelang, sich auf den Rest des abgebrochenen Felsens hinaufzuziehen. Keuchend vor Anstrengung fiel er auf die Seite, schleppte sich so weit vom Abgrund fort, wie es nur ging, und schloß die Augen.
Er war so erschöpft, daß ihm übel wurde, und vielleicht war das der einzige Grund, aus dem er nicht das Bewußtsein verlor, denn er hatte Angst, sich übergeben zu müssen - was im Taucherhelm nicht nur unangenehm, sondern durchaus lebensgefährlich werden konnte. Er blieb bei Bewußtsein, hatte aber nicht mehr die Kraft, aufzustehen oder sich auch nur um einen Millimeter zu bewegen. Der Druck, der auf seinem Anzug lastete, wurde immer unerträglicher. »Astaroth«, flüsterte er. »Du mußt... Hilfe holen. Ich... schaffe es nicht mehr die Wand hinauf. « Trautman und Singh sind schon unterwegs, antwortete der Kater und fügte hinzu: Willst du wissen, was Trautman denkt?
Mike hatte nicht mehr die Kraft, zu antworten. Aber er wollte es auch gar nicht wissen.
Natürlich erfuhr er es trotzdem. Es dauerte noch gute zehn Minuten, bis Trautman und Singh ein Seil an der Felswand hinunterließen und neben ihm auftauchten, und Trautman wartete auch, bis er wieder an Bord der NAUTILUS war und sie sich davon überzeugt hatten, daß er nicht ernsthaft verletzt war. Aber dann sparte er nicht mit Worten, Mike in den düstersten Farben auszumalen, was ihm alles hätte passieren können, und hinzuzufügen, was er von seiner Rettungsaktion hielt. Mike ließ alles klaglos über sich ergehen, und schließlich gab es Trautman auf und schickte ihn in seine Kabine. Mike war so erschöpft, daß er trotz allem auf der Stelle einschlief.