Er erwachte am nächsten Morgen erst sehr spät, und eingedenk dessen, was am vergangenen Tag geschehen war, trödelte er länger als notwendig herum, ehe er seine Kabine verließ und in den Salon ging. Er hörte die Stimmen der anderen schon von weitem: Sie unterhielten sich ziemlich lautstark. Irgend etwas mußte passiert sein.
Als Mike jedoch den Salon betrat, brach die Unterhaltung sofort ab, und alle starrten ihn an. Die plötzliche Stille irritierte Mike und vor allem die Blicke, die ihm die anderen zuwarfen. Mit Ausnahme von Serena, in deren Augen ein angedeutetes Lächeln aufglomm, sahen eigentlich alle ziemlich besorgt drein. Anstatt guten Morgen zu sagen, fragte er: »Was ist passiert?«
Niemand antwortete. Alle starrten ihn weiter an, aber nach einer Weile sagte Ben: »Wir sehen schließlich nicht jeden Tag einen Selbstmörder. « Mike setzte zu einer wütenden Antwort an, aber dann gewahrte er das warnende Funkeln in Trautmans Augen und beließ es bei einem zornigen Blick, den Ben wie erwartet mit einem herausfordernden Grinsen quittierte. Mit schnellen Schritten ging Mike zum Tisch, suchte sich einen freien Platz und sah Trautman an.
»Sie haben das Logbuch gelesen«, vermutete er. »Ja. « Trautmans Gesichtsausdruck war sehr ernst. »Und was ich darin gelesen habe, gefällt mir ganz und gar nicht. « Er beugte sich vor und legte die flache Hand auf das Buch, das Mike erst jetzt bemerkte. Der Ledereinband war aufgeweicht, und Mike sah, daß die meisten Seiten zusammengeklebt und damit vermutlich unleserlich waren.
»Um das ganz klar zu machen, Mike«, sagte er. »Dieses Buch ist sehr wichtig für uns, aber das allein rechtfertigt den Wahnsinn, den du dir gestern geleistet hast, in keiner Weise. Wenn du so etwas noch einmal machst, dann werde ich dich übers Knie legen und dir die Hosen strammziehen, ganz egal, wie alt du bist. « Etwas völlig Unerwartetes geschah: Mike hätte zerknirscht sein sollen oder zumindest niedergeschlagen, denn Trautman hatte mit jedem Wort recht. Er hatte nicht nur sein Leben aufs Spiel gesetzt, sondern auch das Trautmans und Singhs, die ihm nachgekommen waren, um ihn zu retten. Aber statt so zu reagieren, wurde er wütend; so zornig, daß er um ein Haar aufgesprungen wäre und Trautman angeschrien hätte. Er beherrschte sich nur mit äußerster Mühe, wenn auch wohl nicht gut genug, um Trautman nicht spüren zu lassen, was in ihm vorging.
Und auch Trautman reagierte ganz anders als gewohnt. Er, der normalerweise der ruhende Pol an Bord war, derjenige, der jeden Streit schlichtete, manchmal einfach nur durch seine Gegenwart, der blickte ihn herausfordernd, ja geradezu aggressiv an, und Mike konnte regelrecht spüren, daß er nur darauf wartete, einen Streit mit ihm zu beginnen.
Diese Erkenntnis erschreckte Mike. So sehr, daß er nach einigen Sekunden den Blick senkte und wenigstens so tat, als gäbe er das lautlose Duell auf. »Also gut«, sagte Trautman nach einer weiteren Sekunde. Er klang beinahe enttäuscht. »Kommen wir zum Inhalt des Logbuches. Ich denke, ich weiß jetzt, wo das fremde Schiff ist. « »Wo?« fragte Ben überrascht.
Trautman hob besänftigend die Hände. »Nicht so schnell«, sagte er. »Ich sagte: Ich denke, daß ich es weiß. Das Wasser hat das Buch leider sehr stark beschädigt. Ich bin nicht sicher, daß ich die Angaben genau entziffert habe. « Er seufzte, dann drehte er sich halb auf seinem Stuhl herum und sah Mike durchdringend an. »Du warst an Bord des Schiffes, Mike. Ist dir irgend etwas Besonderes aufgefallen?«
»Was meinen Sie?« fragte Mike. Ihm war natürlich eine ganze Menge aufgefallen, aber er hatte das Gefühl, daß Trautman auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Der alte Seemann zögerte eine ganze Weile, bis er schließlich mit einem angedeuteten Achselzucken sagte: »Leider konnte ich mir das Schiff nicht aus der Nähe ansehen, aber was ich von oben erkennen konnte und nach dem, was du mir erzählt hast, scheint es sich wohl um einen ganz normalen Frachter gehandelt zu haben. «
»Stimmt«, sagte Mike, aber Trautman schüttelte den Kopf.
»Eben nicht. Ein Teil der Logbucheintragungen scheint verschlüsselt zu sein, aber ich kenne mich glücklicherweise ein wenig mit solchen Dingen aus, und ich fahre lange genug zur See, um auch so zu erkennen, wenn etwas nicht das ist, was zu sein es vorgibt. Dieses Schiff war alles, nur kein ziviler Frachter, der Eisenerz oder Kohle transportiert hat. «
»Und was dann?« wollte Ben wissen. Er beugte sich gespannt vor, und auch Mike fühlte eine immer stärker werdende Neugier, aber er war auch etwas beunruhigt. Trautman gehörte normalerweise nicht zu den Menschen, die es genossen, eine Sache so spannend wie möglich zu machen. Wenn er jetzt so zögerte, mit der Wahrheit herauszurücken, mußte er einen besonderen Grund dafür haben.
»Wenn sich mein Verdacht bestätigt«, sagte er schließlich, »dann war es ein deutsches Spionageschiff. Zwar getarnt als britischer Frachter und mit perfekt gefälschten Papieren, aber trotzdem ein Boot, das im Auftrag des Kaiserreiches unterwegs war. « »Hoppla«, sagte Ben. Sein Gesicht verdüsterte sich. Der Krieg, der nun schon seit Jahren tobte und ihnen allen die Heimat und sogar einen Freund genommen hatte, berührte die NAUTILUS und ihre Besatzung normalerweise nicht. Nur Ben konnte es manchmal nicht lassen, sie alle daran zu erinnern, daß er zu einer der beteiligten Parteien gehörte und der Meinung war, daß die Neutralität, die die Besatzung der NAUTILUS feierlich geschworen hatte, für ihn vielleicht nicht hundertprozentig galt. Aber zu Mikes Erleichterung enthielt er sich jeden weiteren Kommentars, sondern sah Trautman nur aufmerksam an und wartete darauf, daß er weitersprach. Trautman aber starrte nur mit finsterem Gesicht ins
Leere. Schließlich war es Serena, die das Schweigen brach. Sie räusperte sich und fragte: »Und was bedeutet das nun für uns?« »Nichts Gutes, fürchte ich«, antwortete Trautman mit einem tiefen Seufzen. Er versuchte zu lächeln, was ihm nicht wirklich gelang, aber als er weitersprach, klang seine Stimme wieder etwas kräftiger: »Ich werde euch einfach erzählen, was ich in dem Logbuch gefunden habe«, sagte er. »Immer vorausgesetzt, ich habe es richtig entziffert. Das Wasser hat die Seiten stark beschädigt, so daß ich etliches nur erraten konnte. Aber es scheint, als wäre der Frachter vor vier oder fünf Tagen mit dem fremden Schiff kollidiert. «
»Zusammengestoßen?« ächzte Chris. »Aber dann hätten sie doch auf der Stelle versteinert werden müssen!« Trautman machte eine verneinende Bewegung. »Sie haben es wohl nur gestreift«, sagte er. »Nicht heftig genug, um den Frachter zu beschädigen. Und vermutlich nicht lange genug, damit die unheilvolle Wirkung des fremden Schiffes sofort auf die Besatzung übergreifen konnte. «
»Aber stark genug, daß das fremde Schiff seinen Kurs geändert hat«, vermutete Juan.
Trautman nickte. Er schlug das Logbuch des Frachters an einer Stelle auf, die er mit einem weißen Papierstreifen markiert hatte. Es war nicht der einzige Streifen dieser Art. Mike sah, daß er mindestens ein Dutzend dieser weißen Zettel zwischen die Seiten geschoben hatte und einige vor der Stelle, auf die er nun deutete. Trautman mußte das Logbuch sehr gründlich studiert haben. »Ich werde es euch vorlesen«, sagte er. »Hier ist die erste Eintragung.