jetzt an Bord des Schiffes war. Vollkommen allein und vor allem allein gelassen. Und er wußte, daß es nicht nur ihm so ging. Irgend etwas stimmte nicht mit ihnen. Seit sie das Wrack der TITANIC verlassen und die Spur des Sternenschiffes aufgenommen hatten, schien eine leise, aber sehr bedrohliche Veränderung mit allen Besatzungsmitgliedern der NAUTILUS vor sich gegangen zu sein. Sie begannen ihren Zusammenhalt zu verlieren, und wenn er daran dachte, wie oft sie sich in den letzten Tagen gestritten hatten, wie viele böse Blicke und gehässige Bemerkungen es gegeben hatte, so fragte er sich, ob aus Freunden nicht bereits Fremde geworden waren und ob vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft aus diesen Fremden Feinde werden würden. Der Gedanke war so schrecklich, daß er plötzlich das Gefühl hatte, es in seiner Kabine nicht mehr auszuhalten. Er mußte mit jemandem reden. Mike rief in Gedanken nach Astaroth, bekam aber keine Antwort, obwohl er sicher war, daß der Kater ihn ganz genau hörte. Allein bei dieser Vorstellung empfand er bereits wieder einen Zorn, den er vor wenigen Tagen nicht einmal gekannt hatte und der ihn erschreckte. Und den er trotzdem nicht zu unterdrücken vermochte. Dieses Gefühl bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. Er mußte mit jemandem reden! Am besten mit Astaroth oder Serena; den beiden an Bord, zu denen er -wenngleich auf völlig unterschiedliche Weise das größte Vertrauen hatte. Er verließ seine Unterkunft und ging zu Serenas Kabine, trat jedoch diesmal nicht einfach ein, sondern klopfte und wartete auf eine Antwort. Vergeblich. Er geduldete sich eine Weile, klopfte erneut, wartete noch einmal vergeblich und öffnete die Tür schließlich doch. Vielleicht schlief Serena ja; immerhin war es tiefste Nacht, und er konnte nicht davon ausgehen, daß sie wie er keine Ruhe fand.
Aber ganz offenbar erging es zumindest Serena wie ihm, denn sie war nicht da. Mike trat wieder auf den Gang hinaus, sah sich einen Moment lang unschlüssig um und machte sich schließlich auf den Weg zum Salon.
Er hörte die Stimmen Trautmans und Singhs, die sich am Ruder der NAUTILUS abwechselten, schon von weitem. Unwillkürlich wurden seine Schritte langsamer. Die beiden sprachen in scharfem Ton miteinander, und Mike fragte sich voller Schrecken, ob es vielleicht schon soweit war: daß aus Freunden mittlerweile nicht nur Fremde, sondern schon Feinde geworden waren. Es wäre ganz leicht gewesen, diese Frage zu verneinen; er hätte nur weitergehen und in den Salon treten müssen, und zweifellos hätte ihn Trautman mit einem Lächeln oder einer gutmütigen Bemerkung vom Gegenteil überzeugt.
Aber Mike tat nichts dergleichen. Statt dessen bewegte er sich noch leiser weiter und legte die letzten Schritte auf Zehenspitzen zurück, um von Trautman und Singh nicht bemerkt zu werden. Behutsam lugte er durch die offenstehende Salontür.
Die NAUTILUS bewegte sich zwar getaucht fort, befand sich jedoch offenbar nur ganz dicht unter der Meeresoberfläche, so daß er sehen konnte, mit welchem Tempo das Wasser an dem großen Aussichtsfenster vorüberströmte. Ein weiteres Indiz dafür, wie ernst Trautman die Situation nahm, denn normalerweise war er strikt dagegen, die NAUTILUS mit Höchstgeschwindigkeit laufen zu lassen. Beieinem Schiff, dessen Maschinen bei aller technischen Überlegenheit immerhin die Kleinigkeit von zehntausend Jahren auf dem Buckel hatten, eine verständliche Vorsichtsmaßnahme. Nun aber jagte das Schiff nur so dahin. Trautman und Singh standen am Steuer. Trautmans Hände lagen auf dem großen hölzernen Rad, das angesichts der komplizierten Kontrollinstrumente, die es umgaben, allerdings eher symbolischen Charakter hatte, und redete in aufgeregtem und zugleich sehr ernstem Ton auf Singh ein. Der Inder seinerseits sah ebenfalls ernst und eindeutig bedrückt aus, und er antwortete nur manchmal, dann allerdings ebenfalls in demselben ernsten Tonfall. Und erst jetzt fiel Mike auf, warum er die Unterhaltung der beiden nicht verstand: Sie sprachen indisch. Daß Trautman Singhs Muttersprache beherrschte, überraschte ihn kaum. Aber daß er es tat, obwohl die beiden doch glaubten, allein zu sein, verstärkte Mikes Sorge. Offenbar war das, was die beiden zu besprechen hatten, nicht für die Ohren irgendeines anderen an Bord gedacht. Und das war nun wirklich etwas Ungewöhnliches. Normalerweise gab es so etwas wie Geheimnisse an Bord der NAUTILUS nicht. Was ging hier nur vor? Nach einer Weile erinnerte er sich wieder an den
Grund, aus dem er eigentlich hergekommen war. Ebenso lautlos, wie er gekommen war, schlich er wieder ein kleines Stück von der Tür fort, ehe er sich umwandte und mit raschen Schritten zu seiner Kabine zurückging. Jedenfalls wollte er es. Auf halbem Weg jedoch hörte er ein Geräusch und blieb stehen. Im ersten Moment hatte er Schwierigkeiten, die Richtung zu identifizieren, aus der es erscholl, aber dann war es ganz deutlich: Es war ein gedämpftes Rumoren, das aus Trautmans Kabine drang.
Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet, so daß er erkennen konnte, daß dahinter kein Licht brannte. Außerdem wußte er ja, daß Trautman zusammen mit Singh im Salon war. Mike schlich auf Zehenspitzen weiter, erreichte die Tür und blieb noch einmal stehen, um zu lauschen. Er konnte jetzt ganz deutlich Geräusche vernehmen, die aus der Kabine drangen, die doch eigentlich hätte leer stehen müssen. Niemand an Bord betrat die Kabine eines anderen, wenn er nicht da war. Das war ein ungeschriebenes Gesetz vom ersten Tag an, seit sie zusammen auf der NAUTILUS lebten, und niemand hatte es bisher gebrochen. Mike trat mit einem entschlossenen Schritt in die Kabine, streckte die Hand nach dem Lichtschalter gleich neben der Tür aus -und wäre um ein Haar gegen Serena geprallt, die sich genau in diesem Moment anschickte, die Kabine zu verlassen. Sie schien ebenso erschrocken zu sein wie er, denn er sah trotz des schwachen Lichtes, das vom Gang aus hereinfiel, daß alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.
»Was tust du hier?« fragte Mike. »Ich... ich wollte... ich dachte... « Serena begann zu stammeln, brach schließlich vollends ab und fuhr sich nervös mit der Hand über das Gesicht. »Ja?« sagte Mike. Er hörte selbst, daß seine Stimme lauernd und sehr gespannt klang.
»Ich habe... Trautman gesucht«, sagte Serena schließlich.
Es war eine Lüge. Man mußte nicht wie Astaroth Gedanken lesen können, um das zu erkennen. Es stand überdeutlich in Serenas Augen geschrieben. »Trautman?« vergewisserte er sich, nun in verändertem, fast höhnischem Ton. »Im Dunkeln?« Serena wandte hastig den Blick und sah in die Kabine zurück. Dann begann sie nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten und versuchte zu lächeln. Es gelang ihr nicht. »Ich... ich wollte ihn nicht wecken, falls... falls er schläft«, sagte sie stotternd. Diesmal machte sich Mike nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Was Serena wirklich in der Kabine getan hatte, das war sonnenklar: Sie hatte sie durchsucht.
»Trautman ist im Salon«, sagte Mike, anstatt auf ihre Worte einzugehen. »Zusammen mit Singh. Soll ich ihn holen?«
Serena schüttelte beinahe entsetzt den Kopf. »Nein!« sagte sie hastig und viel zu laut. »Ich... ich gehe schon selbst. Aber was tust du denn hier? Es ist mitten in der Nacht?«
»Ich bin aufgewacht, weil ich ein Geräusch gehört habe«, log Mike. »Und ich wollte nachsehen, wer da so spät noch unterwegs war. Aber wo ich schon einmal wach bin, kann ich dich genausogut zu Trautman begleiten. «