Aber er sah auch Singh und begriff, daß seine Hoffnung verfrüht gewesen war. Singh war entdeckt worden. Zwei der dunkel gekleideten Männer standen hinter ihm und hielten seine Arme gepackt, ein dritter Mann stand unmittelbar vor ihm und redete aufgeregt auf ihn ein. Der eine der Männer, die Singh hielten, blutete aus der Nase, der andere hatte ein dunkles Auge, das bereits zuzuschwellen begann, und ein Stück abseits standen zwei weitere, die sich die offenbar schmerzenden Rippen rieben.
Singh hatte sich sichtlich nach Kräften gewehrt, war aber der Übermacht am Ende nicht gewachsen gewesen. Er selbst war nicht verletzt, und er sah auch nicht besonders eingeschüchtert oder erschrocken drein, dafür aber sehr wütend.
Mike wich hastig wieder ein paar Schritte zurück, denn er war keineswegs sicher, daß auch die Männer, die Singh überwältigt hatten, durch ihn hindurchsehen würden, wenn sie sich zufällig in seine Richtung drehten. Und er war ziemlich ratlos. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wie er Singh helfen sollte. Sein Vater hatte den jungen Sikh-Krieger nicht von ungefähr zu seinem Leibwächter gemacht. Singh war zwar schlank und sah täuschend harmlos aus, aber Mike hatte einmal miterlebt, wie er ganz allein und waffenlos mit gleich vier Gegnern fertig geworden war. Wenn es diesen Männern gelungen war, ihn zu überwältigen, dann hatte er nicht die geringste Aussicht, Singh zu befreien. Sosehr ihm der Gedanke auch widerstrebte -er würde wohl doch allein an Bord der NAUTILUS zurückkehren müssen, um zusammen mit Trautman und den anderen einen Plan zur Befreiung des Inders auszuarbeiten.
Mike sah sich noch einmal nach allen Seiten um, dann huschte er geduckt zum Waldrand zurück, obwohl es wahrscheinlich gar nicht notwendig war, vorsichtig zu sein. Die schwarzgekleideten Männer nahmen immer noch keine Notiz von ihm.
Als er in das Unterholz eindrang, stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt vor ihm. Sie gehörte ganz eindeutig nicht zu den schwarzgekleideten Männern, sondern es war einer der Eingeborenen, von denen sie im Logbuch gelesen hatten. Er war sehr groß, hatte schulterlanges schwarzes Haar und war nackt bis auf einen buntbestickten Lendenschurz. Sein Gesicht war von edlem Schnitt und wirkte sehr kraftvoll, aber der Ausdruck darauf war eher besorgt als wirklich drohend.
»Wer... wer sind Sie?« fragte Mike zögernd. Der Eingeborene sagte etwas in einer sonderbar dunkel klingenden, vollkommen unverständlichen Sprache, und einen Augenblick später traten zwei weitere Eingeborene aus dem Gebüsch hinter Mike heraus. Dann noch einmal drei, so daß er sich schließlich von einem halben Dutzend der hochgewachsenen, dunkelhäutigen Gestalten umringt sah. Also hatte er sich doch nicht getäuscht. Er war die ganze Zeit beobachtet worden. Der Mann, auf den Mike zuerst gestoßen war, begann schnell und in seiner unverständlichen Sprache auf ihn einzureden. Er zeigte dabei immer wieder zum Strand und auch zu dem schwarzen Frachter dahinter. Offenbar brachte er Mike mit diesem Schiff und den Männern in Verbindung. Und Mike hatte das Gefühl, daß die Schwarzgekleideten nicht unbedingt die Freunde der Eingeborenen waren.
»Ich nehme an, daß von euch keiner meine Sprache spricht«, sagte er, sehr langsam und mit übermäßiger Betonung, aber ohne große Hoffnung, irgendeine Antwort zu bekommen. Er bekam Antwort - allerdings keine, mit der er etwas anfangen konnte. Plötzlich redeten alle wild durcheinander auf ihn ein, und ihre Gesten wurden drohender.
Mike ließ sie eine Weile gewähren und beschloß dann, alles auf eine Karte zu setzen. Wenn die Eingeborenen mit den Männern auf dem Schiff gemeinsame Sache machten, dann war er ohnehin verloren. Also hob er den Arm, deutete erst auf die gewaltige Silberscheibe am Strand und schüttelte deutlich den Kopf, dann wies er auf den Frachter und wiederholte sein Kopfschütteln. »Ich weiß nicht, wer diese Männer sind«, sagte er, »aber ich glaube nicht, daß sie unsere Freunde sind. «
Wenn die Eingeborenen die Worte auch sicher nicht verstanden, die Bedeutung der Geste schien ihnen klar zu sein. Der drohende Ausdruck verschwand von den meisten Gesichtern, und ihre Stimmen klangen jetzt aufgeregter, wenn auch nicht unbedingt freundlicher -was aber möglicherweise einzig daran lag, daß ihre Sprache einen für europäische Ohren ungewohnt harten Klang hatte.
»Ihr müßt mich gehen lassen«, sagte Mike. »Ich muß Hilfe holen. Sie haben meinen Freund gefangen. « Er versuchte, die Worte mit entsprechenden Gesten und Handbewegungen auf den Strand und den Wald hin zu untermalen, zweifelte aber daran, daß es ihm gelang, diese komplizierte Botschaft durch reines Deuten und Gestikulieren zu übersetzen. Und als er einen Schritt tiefer in den Wald hinein machen wollte, da vertraten ihm zwei der Eingeborenen auch sofort den Weg. Mike stellte voller Unbehagen fest, daß er eines bisher übersehen hatte: Die Männer waren zwar ausnahmslos nackt bis auf ihren Lendenschurz oder eine bunte Vogelfeder, die sich der eine oder andere ins Haar gesteckt hatte, aber ebenso ausnahmslos bewaffnet: mit dünnen, fast mannslangen Blasrohren und wuchtigen Keulen aus Holz. Einer von ihnen deutete zum Strand hinab, und als Mikes Blick der Bewegung folgte, erkannte er, daß sich ein kleines Ruderboot vom Rumpf des großen Schiffes draußen gelöst hatte und nun auf die Insel zukam.
Zugleich traten Singh und seine fünf Bewacher aus dem Sichtschutz des fremden Schiffes heraus. Singh sträubte sich nach Kräften, wurde von den vier Männern aber einfach mitgezerrt. »Sie wollen ihn auf das Schiff bringen!« sagte Mike erschrocken. »Das darf nicht geschehen! Wenn sie ihn auf das Schiff bringen, können wir ihn bestimmt nicht mehr befreien!« Seine Aufregung entging den Eingeborenen keineswegs. Sie begannen wild durcheinanderzureden, und schließlich war es wieder der, den Mike als ersten gesehen hatte, der die Vermittlung übernahm. Schon nach kurzer Zeit glaubte Mike zu begreifen, was der Mann ihm klarmachen wollte: Er deutete immer wieder auf Singh und die fünf Fremden, schlug sich mit der geballten Faust in die geöffnete Linke und wies dazwischen auf das Schiff, wobei er heftig den Kopf schüttelte und eine Grimasse zog.
»Ihr wollt ihn befreien?« fragte Mike vorsichtig. Er versuchte die Frage mit Gesten zu begleiten, aber ihm fiel nichts ein. Schließlich deutete er auf Singh, dann auf sich, auf die sechs Eingeborenen und tat dann so, als würde er auf der Stelle laufen, und das schien der Mann zu verstehen. Er nickte heftig und schüttelte sein Blasrohr.
Der Anblick der Waffe erschreckte Mike. Er hatte davon gehört, wie vortrefflich viele südamerikanische Indianer mit diesen Blasrohren umzugehen wußten, aber auch, daß es sich um Waffen von absolut tödlicher Wirkung handelte. Und er wollte nicht, daß die Eingeborenen die Männer dort unten umbrachten. Das aber konnte er ihnen unmöglich begreiflich machen -davon einmal abgesehen, daß er ziemlich sicher war, daß sie darauf ohnehin keine Rücksicht genommen hätten. Trotzdem schüttelte er den Kopf, legte die flache Hand auf das Blasrohr des Mannes und wiederholte sein Kopfschütteln. Dann fuhr er sich mit dem Zeigefinger an der Kehle entlang und schüttelte ein drittes Mal den Kopf.
Der Eingeborene wirkte verwirrt und fast ein bißchen enttäuscht, ließ das Blasrohr dann aber zu MikesÜberraschung sinken und hob statt dessen die Keule. Nicht daß diese Waffe wesentlich ungefährlicher gewesen wäre als die Blasrohre, aber zumindest würden sie die Männer dort unten nicht gleich damit umbringen. Und irgendeine Art von Waffen würden sie vermutlich dringend brauchen, wollten sie Singh befreien. Mittlerweile hatte sich das Ruderboot der Küste schon mehr als zur Hälfte genähert, so daß ihnen nun ohnehin keine Zeit mehr für lange Diskussionen blieb. Mike signalisierte den Männern schweren Herzens mit einem Nicken seine Zustimmung, und alle sechs wandten sich auf der Stelle um und traten aus dem Wald hervor. Mike folgte ihnen.