Die Stimme des Häuptlings wurde immer schriller und fordernder, und die Gesten, mit denen er sie begleitete, immer herrischer. Die Krieger in seiner Umgebung begannen allmählich zu murren und sich unruhig zu bewegen.
Mike und Singh tauschten einen nervösen Blick. »Ich verstehe nicht, was er von uns will«, sagte Mike. »Ich glaube, ich schon«, antwortete Singh. »Offenbar erwartet er, daß wir ihnen irgendwie helfen. « »Aber wie?« murmelte Mike hilflos. Wie konnte er jemandem helfen, wenn er nicht einmal wußte, was wirklich mit ihm los war? »Wir können nichts für deine Brüder tun«, sagte Singh langsam und sehr betont und mit einer übertrieben ausgeführten Gestik, mit der er versuchte, dem Häuptling die Bedeutung seiner Worte irgendwie klarzumachen. Offenbar erreichte er jedoch eher das Gegenteil damit, denn der alte Mann wurde immer zorniger und ballte nun die Hand zur Faust, um sie drohend zu schütteln. Einer der Krieger in seiner Begleitung hob seine Keule.
In diesem Moment erschien wie ein rettender Engel Weisser unter der Tür der Hütte. Er wirkte sehr aufgebracht, und er fuhr den Häuptling in scharfem Ton an, offenbar hatte er bereits gewußt, was hier vorging, noch ehe er die Hütte betrat.
Der Häuptling drehte sich zu ihm herum und antwortete im gleichen, schrillen Tonfall. Seine Augen sprühten vor Zorn, und seine ganze Haltung verriet, daß er sich am liebsten auf den Offizier gestürzt hätte. Auch einige seiner Krieger scharten sich drohend um ihn, aber Mike fiel auch auf, daß es längst nicht alle waren: Eine fast ebenso große Anzahl von Männern stellte sich auf Weissers Seite, und etliche schienen noch unentschlossen und sahen immer wieder verwirrt von dem alten Mann zu Weisser und zurück.
Der Offizier trat mit ein paar raschen Schritten zwischen Mike, Singh und den Häuptling. Ohne den Alten aus den Augen zu lassen, sagte er, nun wieder auf englisch: »Keine Sorge, ich lasse nicht zu, daß er euch etwas antut. «
»Ich... ich verstehe nicht, was er will«, sagte Mike hilflos. »Wir können nichts für diese Leute tun. « »Ich weiß«, antwortete Weisser. Er machte eine befehlende Geste, still zu sein, und wandte sich dann wieder an den Häuptling.
Der alter Mann wurde immer zorniger. Er schüttelte wütend die Fäuste und deutete immer wieder auf Mike, Singh und die beiden reglosen Gestalten am Boden, und Weisser antwortete in ebenso scharfem, trotzdem aber merklich ruhigerem Ton. Obwohl Mike kein Wort verstand, begriff er doch sehr wohl, daß zwischen den beiden ein Streit im Gange war, der möglicherweise über ihr Leben entscheiden konnte. Nachdem sie sich eine geraume Weile gegenseitig angriffen hatten, beendete Weisser die Auseinandersetzung, indem er auf eine Gruppe von Eingeborenenkriegern vor der Tür wies und dann auf die beiden Männer am Boden.
Die Eingeborenen setzten sich gehorsam in Bewegung, blieben aber sofort wieder stehen, als der Häuptling sie anfuhr. Weisser wiederholte seinen Befehl, und sie kamen zögernd wieder näher. Das Spielchen wiederholte sich noch drei- oder viermal, bis die Männer schließlich die beiden Kranken hochhoben und rasch aus der Hütte trugen. Mike fiel auf, daß sie sorgsam darauf achteten, ihre zu Stein gewordenen Körperteile nicht zu berühren.
»Kommt mit«, sagte Weisser ohne jede Hast. »Und ganz ruhig. Zeigt auf keinen Fall Unsicherheit oder Angst. « Das war leichter gesagt als getan. Mike konnte fast körperlich fühlen, wie angespannt die Atmosphäre war. Ein einziges falsches Wort, vielleicht nur ein falscher Blick, und es würde zu einer Katastrophe kommen. Aber irgendwie gelang es ihm, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen und ganz ruhig hinter Weisser und Singh aus der Hütte zu treten.
Als sie sich einige Schritte entfernt hatten, atmete Weisser hörbar auf, und ein erleichterter Ausdruck erschien auf seinem bisher so scheinbar ruhig gebliebenen Gesicht. »Das war knapp«, sagte er. »Wenn ich nur einen Moment später gekommen wäre... « Er führte nicht aus, was dann vielleicht passiert wäre, aber das war auch nicht nötig, Mikes Phantasie reichte durchaus, es sich auszumalen.
»Was war denn da drinnen los?« wollte Singh wissen. »Wieso war der Häuptling so aufgebracht?« »Er ist nicht der Häuptling«, erwiderte Weisser. »Der Häuptling war einer der ersten, der der Steinpest zum Opfer fiel. Der Alte ist der Medizinmann des Stammes. « »Er macht nicht unbedingt den Eindruck, als ob er Ihr bester Freund wäre«, sagte Mike. Weisser lächelte flüchtig. »Er hat Angst vor mir«, sagte er. »Und er haßt mich. Ich bringe seine Position in Gefahr. Bisher war er der unumstrittene Herrscher über den ganzen Stamm. Selbst der Häuptling beugte sich seinem Willen. Aber seit das Unglück diese armen Leute getroffen hat, schwindet seine Macht. « »Weil er ihnen nicht helfen kann«, vermutete Singh.
Weisser nickte, und Singh fügte hinzu: »Können Sie es?«
»Nicht annähernd so, wie ich es gerne täte«, antwortete Weisser. »Aber doch ein bißchen besser als er. « »Ich verstehe«, sagte Mike. »Er hat gehofft, daß wir diese Krankheit heilen können... «
»... damit er mich auf diese Weise los wird, ja«, bestätigte Weisser. Er schüttelte den Kopf. »Als ob es mir darum ginge, ihn zu entmachten und seine Stellung einzunehmen!«
»Warum sagen Sie ihm das nicht?« wollte Mike wissen. »Das habe ich, aber er glaubt mir nicht. Ich weiß noch nicht alles über diese Leute, aber in einem bin ich mir ganz sicher -sie fürchten den Alten und würden ihn wohl lieber heute als morgen loswerden. « Mittlerweile hatten sie den Dorfplatz überquert und waren vor den Hütten angekommen, die sich in ihrer Farbe so sonderbar von den restlichen Gebäuden unterschieden. Die Männer luden die beiden Kranken vor dem Eingang einer der Hütten ab und traten hastig zurück, und als Mike und Singh ihm folgen wollten, schüttelte Weisser den Kopf und machte eine abwehrende Geste. »Nein. Es ist besser für euch, wenn ihr nicht dort hineingeht. Ich werde mich um die beiden kümmern. Wartet bitte hier auf mich. « Mike und Singh sahen verblüfft zu, wie Weisser die beiden Eingeborenen ganz allein in eine der Hütten trug. »Wer ist dieser Mann?« murmelte Mike. »Ich verwette Astaroths Halsband, wenn er wirklich nur Offizier der deutschen Handelsmarine ist. « »Seine Uniform stimmt jedenfalls«, sagte Singh. Mike schnaubte. »Ja«, sagte er grimmig. »Aber das ist auch schon das einzige, was stimmt. « Etwas Seltsames geschah: Für einen ganz kurzen Moment hatte er das sichere Gefühl, die Antwort auf seine Frage zu kennen. Er hatte irgend etwas gesehen oder gehört, das alle Fragen beantwortete, aber es gelang ihm einfach nicht, dieses Wissen festzuhalten. Es verschwand wieder, ehe er es in Worte kleiden konnte, und hinterließ ein Gefühl tiefer Enttäuschung und leiser, nagender Furcht. Auf dieser Insel geschah etwas Unheimliches, das viel bedeutungsvoller war und viel weitreichendere Folgen haben mochte, als sie alle jetzt schon begriffen. Sie warteten darauf, daß Weisser zurückkam, aber in der Hütte rührte sich nichts.
Statt dessen jedoch begann am anderen Ende des Dorfplatzes mit einem Male Unruhe aufzukommen. Mike hörte einen zornigen Ruf, und als er sich herumdrehte und in die entsprechende Richtung blickte, sah er, daß zwei der Eingeborenen offensichtlich miteinander in Streit geraten waren. Sie schrien sich an, stießen sich gegenseitig mit den flachen Händen vor die Brust und versuchten sich an den Haaren zu ziehen. Schließlich stürzte sich der eine auf den anderen, und beide begannen mit den Fäusten aufeinander einzuschlagen. Mike wollte sofort hingehen, aber Singh legte ihm rasch die Hand auf den Arm und schüttelte wortlos den Kopf. Mike gehorchte. Es war wirklich besser, wenn er sich nicht in einen Streit einmischte, von dem er nicht einmal wußte, weshalb er ausgebrochen war. Außerdem bemühte sich bereits fast ein Dutzend Männer, die beiden Kampfhähne voneinander zu trennen. Jedenfalls dachte Mike das im ersten Moment. Dann jedoch sah er zu seinem Schrecken, daß sie nichts dergleichen taten, sondern die Partei des einen oder anderen ergriffen und ebenfalls aufeinander loszugehen begannen. Schon nach wenigen Augenblicken war die wüsteste Rauferei im Gange, und aus der Menge, die ringsum einen Kreis gebildet hatte und die Kämpfenden mit schrillen Rufen anfeuerte, warfen sich immer wieder weitere Männer ins Gewühl.