»Wer soll es denn sonst gewesen sein?« fragte Ben patzig.
Trautman hob die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Spezialist für Lebewesen von anderen Sternen. Ich denke nur, wir sollten Serenas Geschichte ernst nehmen. «
»Eine zehntausend Jahre alte Legende?« ächzte Ben. »Die allermeisten Legenden haben einen wahren Kern«, sagte Trautman. »Also gut, fassen wir zusammen: Wir wissen, daß die TITANIC vor fünf Jahren gesanken ist, nachdem sie mit einem Raumschiff zusammengestoßen ist, das die Körper Dutzender Wesen bergen wollte, die sich in den Laderäumen des Meeresgiganten befanden - ohne daß irgend jemand an Bord etwas davon wußte. Sowohl die TITANIC als auch das fremde Schiff sind nach dem Zusammenprall gesunken. Fünf Jahre lang haben sie auf dem Meeresgrund gelegen, ohne daß irgend etwas geschah. Und jetzt, kaum vier Wochen später, kommen wir zurück, entdecken, daß das Schiff nicht zerstört worden ist, und am nächsten Tag ist es nicht mehr da. Ich glaube nicht, daß das Zufall ist. «
»Sondern?« fragte Juan.
Trautman zuckte erneut mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Aber ich glaube nicht an Zufälle. Jedenfalls nicht an solche. «
Mike nickte langsam. »Und jetzt, wo niemand mehr da ist, den es beschützen muß... «
Trautman wiegte den Kopf. »Ja, so könnte es gewesen sein. « Aber sehr überzeugt klang er nicht. »Warum machen wir uns dann noch Sorgen?« fragte Ben. »Ich meine, wenn es wirklich von einem anderen Stern gekommen ist und sich jetzt wieder auf dem Rückweg dorthin befindet, können wir ihm sowieso nicht folgen. «
»Und wenn nicht?« fragte Chris. Er deutete auf das Fenster, dann nach oben, zur Decke des Salons. »Nur, weil es nicht mehr da ist, muß es nicht zwangsläufig dort sein, oder?«
Ben verdrehte die Augen. »Warum müßt ihr eigentlich immer alles so kompliziert machen? Es ist nicht mehr da, basta. Was sollen wir tun? Vielleicht den gesamten Ozean danach absuchen? Das ist doch sinnlos. « »Und wenn Serena recht hat?« fragte Chris. »Wenn dieses Ding wirklich gefährlich ist?« »Wenn, wenn, wenn!« maulte Ben. »Wir können es nicht ändern, oder? Wir wissen ja nicht einmal, wo wir danach suchen sollen. «
»Genug!« fuhr Trautman dazwischen. »Es nutzt niemandem etwas, wenn wir uns streiten. Ich schlage vor, wir gehen noch einmal hinüber zur TITANIC und sehen uns gründlich um. Vielleicht finden wir irgendwelche Spuren, die uns weiterhelfen. « »Aber das ist doch nichts als Zeitverschwendung«, beharrte Ben.
»Niemand zwingt dich, mitzukommen«, antwortete Trautman scharf. »Du kannst hierbleiben oder mitkommen, ganz wie du willst. Aber wir haben wirklich keine Zeit für endlose Diskussionen. «
Nicht nur Ben starrte Trautman verwundert an. Für eine Sekunde breitete sich ein allgemeines Schweigen aus. Keiner hier war diesen Ton von Trautman gewohnt, und Mike konnte sich tatsächlich an keine einzige Gelegenheit erinnern, bei der Trautman seine Autorität jemals so ausgespielt hatte. Verblüfft fragte er sich, was in ihn gefahren sein mochte. Er bekam sogar unerwartet eine Antwort auf diese Frage.
Er hat Angst, wisperte die Stimme des Katers in seinen Gedanken.
Mike konnte im letzten Moment den Impuls unterdrücken, laut zu antworten, sah den Kater aber fragend an. Angst? antwortete er auf die gleiche, lautlose Art. Wovor?
Astaroth erwies sich als ein weitaus talentierterer Schauspieler, als Mike es war, denn er hockte seelenruhig auf seinem Hinterteil und schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, seine Vorderpfoten zu lecken. Da jedermann an Bord wußte, daß der Kater imstande war, Gedanken zu lesen, hatten sie Astaroth schon vor langer Zeit das Versprechen abgenommen, es nicht ohne ihr Einverständnis zu tun. Astaroth hatte zwar auf seine typische, überheblich-spöttische Art darauf geantwortet, schließlich aber doch eingesehen, daß Menschen es nun einmal nicht mochten, wenn man in ihren innersten Gedanken las wie in einem offenen Buch. Natürlich tat er es dann und wann trotzdem, und ebenso natürlich argwöhnten alle an Bord, daß es so war -alle außer Mike. Er wußte, daß der Kater nicht die geringste Absicht hatte, sein Versprechen einzuhalten. Wer hätte jemals von einer Katze gehört, die sich an eine Abmachung hielt -außer, es war zu ihrem Vorteil? Wovor hat er Angst? Doch nicht vor dieser uralten Geschichte?
Nein, antwortete der Kater. Gewiß nicht. Er hat Angst, daß dieses Sternenschiff gefunden werden könnte. Wieso?
Bist du so begriffsstutzig, oder tust du nur so? fragte Astaroth patzig. Deine Brüder und Schwestern führen seit drei Jahren einen Krieg gegeneinander, der allmählich die ganze Welt in Brand zu setzen beginnt. Was glaubst du wohl, würde passieren, wenn eine der beiden Seiten dieses Schiff in die Hände bekäme? Sie haben schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um der NAUTILUS habhaft zu werden. Was würden sie erst tun, um dieses Ding in ihren Besitz zu bekommen? Mike konnte ihm nicht widersprechen. Schlimmer noch: So, wie die politische Lage auf der Welt im Moment aussah, waren so ziemlich alle Hände die falschen. Da sie den größten Teil ihrer Zeit auf und unter dem Meer zubrachten, vergaßen sie nur allzu schnell, daß über ihren Köpfen seit drei Jahren eine Auseinandersetzung tobte, die unter dem Begriff Erster Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Aber dieser Krieg hatte sie schon mehr als einmal eingeholt, und er hatte unter der Besatzung der NAUTILUS auch ein Opfer gefordert. Allein bei der Vorstellung, daß dieses Sternenschiff mit seiner um wahrscheinlich jahrtausendeweit fortgeschrittenen Technik einer der beiden Seiten -und ganz gleich, welcher! -in die Hände fallen könnte, lief Mike ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Hast du alles verstanden? Mike? Mike!« Mike fuhr zusammen und sah zu Trautman hoch. Er begegnete einem mehr als ärgerlichen Blick und begriff, daß Trautman ihn wahrscheinlich schon zwei-oder dreimal angesprochen hatte, ohne daß er es auch nur hörte. »Wie?« fragte er kleinlaut. »Jetzt, wo ich deine geschätzte Aufmerksamkeit ebenfalls habe, können wir vielleicht aufbrechen«, sagte Trautman, wieder in scharfem Ton. »Du und ich sehen uns die Stelle an, wo das Sternenschiff gewesen ist. Die anderen bleiben hier und ruhen sich aus. Für den Fall, daß irgend jemand noch überschüssige Energie hat, kann er Serena helfen, die Bibliothek nach Hinweisen auf diese Legende zu durchsuchen. « Er deutete auf die dem Fenster gegenüberliegende Wand, die fast zur Gänze von einem gewaltigen Bücherregal eingenommen wurde. Keiner von ihnen hatte sich je die Mühe gemacht, sie zu zählen, aber es mußten Tausende sein. »Damit wirst du wohl hinreichend beschäftigt sein, bis wir zurückkommen. «
Mike riß erneut verblüfft die Augen auf. Das war kaum noch der Trautman, den sie alle kannten. Er konnte sich nicht erinnern, ihn jemals in einem solchen Ton reden gehört zu haben.
»Also, brechen wir auf«, sagte Trautman. »In einem stimme ich Ben nämlich zu: Ich habe keine Lust, länger als notwendig hierzubleiben. « Er stand auf, drehte sich auf der Stelle herum und verließ mit energischen Schritten den Raum. Mike warf einen fragenden Blick zu Serena hinüber, erntete aber nur ein ratloses Achselzucken. Keiner von ihnen hatte Trautman jemals so gereizt gesehen. Es war direkt unheimlich.
Und es sollte erst der Anfang sein.
Es war nicht das erste Mal, daß Mike an genau dieser Stelle stand und zu der gewaltigen Klippe aus muschelverkrustetem Stahl und Rost hinaufsah, aber das Gefühl, das er dabei hatte, hatte sich nicht verändert. Es schien sogar noch stärker geworden zu sein, er kam sich winzig und verloren vor, wie eine Ameise vor der Fassade eines Hauses. Die TITANIC hatte ihren Namen zu Recht, aber es war eben eine Sache, zu hören, daß es sich um den größten Passagierdampfer handelte, der jemals gebaut worden war, und eine ganz andere, diesem schwimmenden Koloß wirklich gegenüberzustehen.