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Mike bückte sich hastig, klemmte sich den versteinerten Kater unter den einen Arm und ergriff Serena mit der freien Hand. Ohne auf ihre wilde Gegenwehr zu achten, zerrte er sie in die Höhe und hinter sich her auf die Tür zu. Ben, Chris und Juan stürmten bereits voraus und polterten die Wendeltreppe zum Turm hinauf. Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie den Turm erreicht hatten und sein Blick aus dem mannsgroßen Bullauge fiel. Die NAUTILUS schoß mit solcher Geschwindigkeit durch die See, daß das Wasser aufspritzte wie hinter einem Schnellboot, und die Insel schien nur so auf sie zuzufliegen. Wenn Singh nicht bald den Kurs änderte oder wenigstens die Geschwindigkeit drosselte, dann würden sie weit genug auf den Strand hinaufschießen, daß sie die NAUTILUS hinterher aus dem Wald pflücken konnten. Aber so viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Juan und Ben waren bereits vorausgeklettert und versuchten mit vereinten Kräften, die Turmluke zu öffnen. Endlich schafften sie es, das schwere Rad zu drehen und den Deckel aufzustoßen -und im gleichen Moment traf ein unvorstellbarer Schlag die NAUTILUS.

Es war, als wäre der Himmel auf die Erde herabgestürzt; besser gesagt, auf das Schiff. Die NAUTILUS wurde wie von einem Faustschlag getroffen und in die Höhe gerissen, hob sich mehrere Meter weit aus dem Wasser und stürzte mit unvorstellbarer Wucht wieder zurück. Ben und Juan wurden von der Leiter geschleudert, während Mike, Serena und Chris übereinanderpurzelten, und nur einen Sekundenbruchteil später spülte eine schäumende Flutwelle durch die offenstehende Turmluke herein. Das Dröhnen, Krachen und Bersten hielt an, und Mike konnte darunter noch einen anderen, ungleich schrecklicheren Laut hören: das Kreischen von zerreißendem Metall und dann das furchtbare Geräusch von Wasser, das sich gurgelnd seinen Weg ins Schiff hinein bahnte. Allerdings nicht nur durch das Leck irgendwo im Rumpf, sondern auch von oben. Durch die Turmluke stürzte ein wahrer Wasserfall aus weißem Schaum. Die NAUTILUS war auf Grund gelaufen. Sie bewegte sich nicht mehr, aber sie lag nicht gerade, sondern so schräg auf der Seite, daß das Meer bei jeder Welle durch die Turmluke hereinspülte. Der Turm war bereits halb vollgelaufen, und das Wasser stieg immer schneller -Singh mußte die Notautomatik ausgelöst haben, die alle Sicherheitstüren an Bord des Schiffes schloß, so daß nicht nur der Turm, sondern auch alle anderen Gänge und Räume hermetisch abgeschlossen waren. Auf diese Weise konnte das Wasser wenigstens nicht das gesamte Schiff überfluten, sondern nur in die beschädigten Teile eindringen.

Diese an sich sehr sinnvolle Einrichtung drohte nun allerdings für Mike und die anderen zur Todesfalle zu werden, denn auch die Tür hinter ihnen hatte sich automatisch geschlossen. Das Wasser stand Mike bereits bis zur Brust, und es stieg immer schneller und schneller. Er konnte sich kaum noch auf den Füßen halten. Er hörte Serena neben sich schreien und wollte ihr zu Hilfe eilen, sah dann aber, daß sie selbst gar nicht in Gefahr war. Irgendwie hatte sie es geschafft, eine der eisernen Leitersprossen zu ergreifen und sich daran festzuklammern. Ihr ausgestreckter Arm deutete auf einen Punkt unmittelbar neben Mike, und als sein Blick der Bewegung folgte, sah er gerade noch, wie eine versteinerte graue Katzenpfote in den wirbelnden Fluten versank. Ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in der er selbst schwebte, atmete er noch einmal tief ein und tauchte dann hinter dem Kater her.

Sofort wurde er von dem wirbelnden Wasser ergriffen und herumgeschleudert. Mehrmals prallte er schmerzhaft gegen unsichtbare Hindernisse, ehe seine tastenden Hände endlich Astaroths Schwanz erfaßten. Er griff mit aller Kraft zu, betete, daß er nicht abbrach (was angesichts des unheimlichen Zustandes, in dem sich Astaroth befand, gar nicht so unmöglich und ganz und gar nicht komisch war), und versuchte die Wasseroberfläche zu erreichen. Da war keine Wasseroberfläche mehr. Sein Kopf stieß schmerzhaft gegen Metall, als er nach oben schwamm. In den wenigen Augenblicken, die er nach Astaroth gesucht hatte, mußte der Turm endgültig vollgelaufen sein.

Panik drohte ihn zu übermannen. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe, tastete mit den Händen blind um sich und fühlte plötzlich eine Leitersprosse unter den Fingern. Er wußte, daß er der Leiter nur zu folgen brauchte, um die offenstehende Luke zu erreichen und damit die Wasseroberfläche. Der Sog war immer noch enorm, aber wenn er sich von Sprosse zu Sprosse zog, konnte er es schaffen.

Er versuchte es, doch seine Hände verweigerten ihm den Dienst, und als er sie in dem trüben Wasser dicht vor das Gesicht hielt, begriff er auch, warum. Seine Finger waren zu Stein geworden. Und das unheimliche Geschehen setzte sich rasend schnell fort. Mikes Lungen brannten bereits vor Atemnot, und sein Herz hämmerte so schnell und schwer, als wollte es in seiner Brust auseinanderspringen. Aus entsetzt aufgerissenen Augen sah er zu, wie sich die graue Färbung in seinen Händen ausbreitete, die Gelenke erreichte und weiter seine Arme hinaufkroch; wie graue Tinte, die sich in einem Stück Löschpapier ausbreitete. Gleichzeitig wich alles Gefühl aus seinen Händen, den Armen und schließlich den Schultern. Seine Lungen schrien vor Schmerz. Wäre er in der Lage dazu gewesen, hätte er in diesem Moment vielleicht den Mund geöffnet und das tödliche Wasser eingeatmet.

Doch das konnte er nicht mehr. Die Lähmung hatte bereits seinen Hals erreicht und wanderte schnell und unaufhaltsam weiter nach oben, in sein Gesicht und seinen Kopf und hinab zu seinem Herzen. Als die Dunkelheit schließlich kam, war es fast wie eine Erlösung. Er ertrank nicht.

Seine Lungen brauchten keinen Sauerstoff mehr, denn sie waren zu Stein geworden.

Als Mike die Augen aufschlug, hatte er das gleiche Gefühl, das man manchmal nach einem sehr langen, sehr entspannenden Schlaf hatte: Er wußte, daß viel Zeit vergangen war, und irgendwie erinnerte er sich auch an alles, was in dieser Zeit gewesen war; wenn auch nicht so, daß er es tatsächlich jemandem hätte erzählen können. Es war, als wäre er tot, aber in Wirklichkeit doch nicht, oder als schliefe er, ohne wirklich eingeschlafen zu sein. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, gepaart mit dem sicheren Wissen, daß er entsetzlich lange in diesem düsteren Zwischenreich zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Doch was eigentlich zählte, war, daß er überhaupt imstande war, diesen Gedanken zu denken. Die bloße Tatsache allein nämlich bewies, daß er noch lebte. Dabei hätte er tot sein müssen - und sozusagen zweifach, hatte er doch die Wahl zwischen Ertrinken und Versteinern gehabt, und -

Da gäbe es schon noch eine dritte Möglichkeit, flüsterte eine wohlbekannte Stimme in spöttischherablassendem Tonfall in seinen Gedanken. Du könntest dir zum Beispiel einen Knoten ins Gehirn machen und auch noch dein letztes bißchen Verstand verlieren. »Astaroth?« murmelte Mike. Und dann schlug er mit einem Ruck die Augen auf, setzte sich hoch und schrie mit vollem Stimmaufwand: »Astaroth?!« Alles in der gleichen Sekunde, und das war zu schnell, denn ihm wurde auf der Stelle schwindelig, und er stürzte hilflos zur Seite. Leicht benommen registrierte er, daß er in weichen Sand fiel, nicht auf harten Stahl, und daß das Licht, das durch seine hastig wieder geschlossenen Lider drang, offenbar das der Sonne sein mußte, nicht mehr die künstliche Beleuchtung, wie sie an Bord der NAUTILUS herrschte.