»Selbst die NAUTILUS«, unterbrach ihn Serena. Sie lächelte schmerzhaft, aber trotzdem liefen ihr weiter die Tränen über das Gesicht. »Dieses Schiff wurde in meiner Heimat gebaut. Es hat einmal meinem Vater gehört, aber nun ist es zu einem Teil eurer Welt geworden. Es gehört euch viel mehr, als es jemals mir gehört hat. Ich... ich habe versucht, mich an den Gedanken zu gewöhnen, Mike, aber ich glaube nicht, daß es mir gelingt. Versuch dir vorzustellen, wie es ist, Mike, wenn du dich zum Schlafen niederlegst und in einer vollkommen anderen Welt aufwachst. Eine Welt, die nicht nur anders aussieht als alles, was dir vertraut ist, sondern vollkommen anders ist. Deren Menschen nicht nur eine andere Sprache sprechen, sondern sogar anders denken. Nichts hier ist mehr so, wie ich es gekannt habe. Selbst eure Legenden sind anders. « Ein Gefühl tiefer Trauer begann sich in Mike breitzumachen. Er konnte das ganze Ausmaß von Serenas Schmerz nicht erahnen, doch schon der schwache Hauch davon, den er spürte, reichte aus, sein Herz zusammenzupressen. »Aber seit du an Bord bist -«
»- habe ich mich selbst belogen«, unterbrach ihn Serena. »Euch alle, aber vor allem mich selbst. Ich habe geglaubt, daß ich damit fertig werde, aber das stimmt nicht. «
»Wir sind auch heimatlos, Serena«, sagte Mike leise. Er wußte, daß es nur ein schwacher Trost war, aber er sprach trotzdem fast verzweifelt weiter: »Ben, Chris, Juan, Singh
-selbst Trautman. Wir alle haben unsere Heimat aufgegeben und leben auf diesem Schiff. Wir sind ebenso heimatlos wie du!«
»Trotzdem ist es noch eure Welt«, widersprach Serena. »Für dich und die anderen ist das hier alles ein gewaltiges Abenteuer. Das war es bisher für mich auch. Aber es gibt einen Unterschied, weißt du? Ihr alle habt einen
Platz, an den ihr gehen könnt. Eines Tages seid ihr des Abenteuers vielleicht überdrüssig, und dann könnt ihr ein ganz normales Leben führen; vielleicht unter fremden Menschen, aber in eurer Welt. So einen Platz gibt es für mich nicht. «
»Es ist auch deine Welt«, widersprach Mike. »Ob du nun in Atlantis geboren bist oder in New York, spielt keine Rolle. Du bist ein Mensch wie ich. « »Ja, das habe ich mir auch einzureden versucht«, sagte Serena traurig. »Aber es ist nicht wahr. Eure Welt ist nicht wie unsere. Sie war es nie. Das weißt du sogut wie ich. « Sie schüttelte den Kopf. »Dieses Schiff hat nur Übles hervorgebracht, es hat schon das Leben deines Vaters zerstört, und es hätte beinahe deines und das deiner Freunde gekostet. Und es ist nicht nur dieses Schiff. Unsere Welt und eure passen einfach nicht zusammen. «
»Aber das stimmt doch nicht!« sagte Mike. »Wie oft sind wir auf Dinge aus unserer Welt gestoßen?« fragte Serena. »Dieses Schiff. Meine magischen Kräfte. Die Stadt auf dem Meeresgrund oder die Insel der Dinosaurier. Jedesmal sind wir nur mit knapper Not mit dem Leben davongekommen. « Sie schüttelte den Kopf. »Selbst unsere Legenden bringen den Tod. «
»Aber das ist doch nun wirklich nicht deine Schuld«, sagte Mike.
Serena lächelte traurig. »Nein, sicher nicht. Aber das macht es nicht besser. Unsere Welt und eure passen nicht zusammen. Ich kann auf Dauer sowenig hier leben, wie du und deine Freunde auf Atlantis leben könntet. «
Mike schwieg sehr lange. Er hätte Serena gerne widersprochen -aber er konnte es nicht. Schließlich fragte er: »Aber was willst du denn tun?« Serena antwortete nicht. Sie sah ihn nur an. Und nach einer Weile stand Mike ebenso wortlos auf, wandte sich um und verließ Serenas Kabine. Er merkte nicht einmal, daß auch ihm Tränen über das Gesicht liefen, als er auf den Gang hinaustrat.
Es vergingen weitere zwei Tage, ohne daß sie die Spur des fremden Schiffes wiederfanden. Sie hatten einen kreisförmigen Bereich des Meeresbodens mit einem Durchmesser von fünf Seemeilen abgesucht und das buchstäblich Quadratmeter für Quadratmeter, ohne auf mehr als Sand und Steine zu stoßen, und Trautman entschied, daß es genug war. Enttäuscht kehrten sie zum Ausgangspunkt ihrer Suche zurück und begannen von dort aus in immer größer werdenden Kreisen den Meeresboden abzusuchen. Die Stimmung an Bord war auf den Tiefpunkt gesunken.
Mike war allein im Salon der NAUTILUS. Trautman hatte ihnen Bescheid gegeben, daß er sie in einer Stunde zu einer letzten Beratung erwartete; ein Vorschlag, der nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen worden war. Auch Mike fragte sich, wozu eine solche Beratung gut sein sollte. Sie hatten die Spur des Schiffes verloren. Im bestmöglichen Fall hatte es diese Welt verlassen. Das hat es nicht.
Mike schrak zusammen, als Astaroths lautlose Stimme ohne Vorwarnung in seinen Gedanken erklang. Er hatte nicht einmal gewußt, daß sich der Kater im Salon der NAUTILUS aufhielt. Das tue ich auch nicht, sagte Astaroth. Soviel zu Astaroths Beteuerungen, dachte er: Was macht dich so sicher?
Ganz einfach, antwortete Astaroth. Seine Stimme klang hörbar amüsiert. Ich habe es gefunden. »Du hast... was?« entfuhr es Mike. Nun ja, vielleicht nicht unbedingt das Schiff, räumte Astaroth ein. Aber doch eine deutliche Spur. Schau aus dem Fenster.
Mike eilte mit hastigen Schritten zum Fenster und sah angestrengt hinaus. Die NAUTILUS schwebte regungslos ungefähr zehn Meter über der Stelle, an der die Spur des Sternenschiffes wie abgeschnitten aufhörte. Der Meeresboden brach vor ihnen entlang einer wie mit dem Lineal gezogenen Kante ab, hinter der nichts als bodenlose Schwärze gähnte. Es war eine Schlucht von einer guten halben Meile Breite. Ihre Meßgeräte behaupteten, daß sie annähernd dreitausend Meter tief war; zusammen mit den mehr als zweitausend Metern Wasser, die sich bereits über ihnen türmten, also eine Tiefe, in die nicht einmal die NAUTILUS vorstoßen konnte.
»Wo?« fragte Mike aufgeregt. »Ich sehe nichts. « Natürlich nicht, antwortete Astaroth spöttisch. Das ist wieder mal typisch für euch Menschen. Ihr seht immer nur das, was ihr sehen wollt, nicht wahr? Guck genau hin. Der große Felsen direkt unter dir - war kein Felsen.
Mike erkannte die Wahrheit im selben Moment, in dem er Astaroths Worte hörte, und ganz plötzlich war es so deutlich, daß er sich eine Sekunde lang verblüfft fragte, wieso sie es nicht schon längst bemerkt hatten. Weil ihr Menschen seid, sagte Astaroth hämisch, als wäre das Erklärung genug - was es für ihn wahrscheinlich auch war.
Mike war allerdings viel zu erstaunt, um Astaroths Hohn auch nur wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Der Anblick war so bizarr, daß er im ersten Moment fast an seinem Verstand zweifelte. Zwanzig oder dreißig Meter unter der NAUTILUS lag ein Schiff. Es schien über die Kante der Schlucht gefallen zu sein, war aber auf einen Felsvorsprung geprallt, ehe es seinen Sturz in die Tiefe endgültig beginnen konnte, und lag nun kieloben dort, so daß nur der muschelverkrustete Rumpf im Licht des Scheinwerfers glitzerte eigentlich kein Wunder, daß sie es beim ersten Mal nicht gesehen hatten. Aber jetzt, wo er einmal wußte, daß es da war, war es ganz deutlich.
Zugleich fragte er sich allerdings auch, was der Anblick dieses Schiffswracks, so seltsam er auch sein mochte, mit dem Sternenschiff zu tun hatte. Es lag vielleicht schon seit Jahren hier, möglicherweise seit Jahrzehnten.
Häng noch ein paar Nullen dran, riet Astaroth spöttisch. So, wie es hier aussieht, könnte dieses Ding vermutlich seit einer Million Jahren auf dem Meeresgrund liegen. Es ist alles versteinert. Von der Besatzung angefangen.
Nun, dachte Mike, das ist der Beweis, daß das Schiff mit dem Gefährt von den Sternen kollidiert ist. Erst nach zwei oder drei Sekunden fiel ihm auf, daß... »Woher weißt du das?« fragte er laut. Weil ich an Bord bin, antwortete Astaroth. Mike war im ersten Moment so überrascht, daß er gar nicht antwortete. Astaroth war nun schon so lange an Bord der NAUTILUS, daß Mike manchmal vergaß, daß er eben kein normaler Kater war, sondern nur so aussah. Anders als sie konnte er sich selbst in dieser Wassertiefe ohne Taucheranzug frei bewegen und auch ohne Sauerstoffgerät atmen. »Wie sieht es an Bord aus?« fragte Mike aufgeregt. »Wie sieht es wo aus?« fragte eine Stimme hinter ihm. Mike fuhr erschrocken herum und starrte in Chris' Gesicht. Er war so sehr in sein Gespräch mit Astaroth vertieft gewesen, daß er gar nicht gemerkt hatte, wie Chris hereingekommen war.