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»Grosi«, sagte Katharina, »wie ist – «

»Pssst, Didi!« sagte die Großmutter und hielt einen Finger an die Lippen, »gute Nacht jetzt!«

»Gute Nacht«, flüsterte Katharina und sah zu, wie das Flämmchen zur Tür hinausschwebte, gefolgt von der Schattenriesin, die auf einmal von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Tür war zu. Diesmal schien es Katharina, als hätten die Geister gequietscht vor Freude, weil sie jetzt zwei Kinder gefangen hatten. Es wäre ihr lieber gewesen, das Grosi hätte die Tür einen Spalt offen gelassen, dann hätte sie vielleicht noch einen kleinen Schimmer des Lichts aus der Küche gesehen.

Katharina wagte jedoch nicht mehr, das Bett zu verlassen und die Tür zu öffnen. Sie war ja ein braves Kind, hatte die Großmutter gerade gesagt. Oder hatte sie Kaspar gemeint?

Katharina horchte.

Aus der Küche war ein Lachen zu vernehmen, aber es kam von weit her, wie aus einem andern Land.

Die Treppengeister beklagten sich über die Schritte der Großmutter.

Die Tür zur Küche wurde geschlossen, das Gelächter verstummte.

Jetzt war es ganz still. Katharina hörte nichts als das Atmen ihres Bruders und das Pochen ihres Herzens.

»Ich bin das brave Kind«, dachte Katharina, »und ich muß keine Angst haben.«

Nach einer Weile klopfte ihr Herz weniger stark, und draußen begann es zu regnen. Ein Windstoß trieb die Regentropfen gegen die Fensterläden. Katharina dachte an die Sintflut, sie hatte die Großmutter noch nach dem Ausgang der Geschichte fragen wollen, das wußte sie sicher, es stand ja in der Bibel und hatte mit Kröpfen und Kindermachen nichts zu tun. Bestimmt waren nicht alle ertrunken, sonst gäbe es heute keine Menschen mehr.

Irgendwo in der Ferne krachte es. Hoffentlich kein Felsbrocken, dachte Katharina. Aber was sollte es sonst sein?

Sie dachte an die »Meur«, und wie jetzt wohl alle auf die Geburt warteten, der Atti mit Anna und Jakob und Regula unten in der Gaststube, die Mutter mit der Hebamme in ihrem Zimmer oben, keuchend und schwitzend, und Züsi in ihrem Nestlein unter der Treppe. Schnell faltete sie die Hände und betete lautlos: »Lieber Gott, mach, daß der Felsbrocken nicht auf die ›Meur‹ stürzt.«

Sie hatte die Hände noch nicht voneinander gelöst, als es ein zweitesmal krachte, und sogleich betete sie weiter: »Lieber Herr Jesus, wirf diesen Brocken in den Raminerbach!«

Jesus war doch der Sohn des lieben Gottes, also staute er sicher gern Bäche wie ihr Bruder Jakob und seine Freunde, oder er warf gern Steine in einen Bach, und weil er alles konnte, konnte er auch einen ganzen Felsen in den Bach werfen, daß es hoch aufspritzte ringsum, so hoch, daß davon ein Regen über das ganze Tal niederging, ein Regen, der unaufhörlich lange an die Fenster trommelte.

8

»Guete Tag, guete Tag!

Jublet’s Spätzli ufem Hag.«

Irgendwo im Haus sang eine Frauenstimme diesen Kinderreim.

Katharina erwachte und merkte als erstes, daß sie ihre Puppe in der Wohnung unten vergessen hatte. Sonst nahm sie sie immer mit ins Bett, aber gestern war eben alles anders gewesen; vom Abort war sie nicht mehr zurück in die Stube gegangen, und so saß wohl Lisi immer noch auf dem Sofa und wartete auf sie.

Durch die Spalte der Fensterläden sickerte das Tageslicht. Katharina war erleichtert, daß die Nacht vorbei war, und sie genoß es, im Bett soviel Platz zu haben. Neben ihr schlief Kaspar immer noch. Sie streckte sich und stieß mit den Zehenspitzen auf das erkaltete Säcklein mit den Kirschensteinen. Als sie mit dem Fuß etwas auswich, spürte sie, daß das Unterleintuch feucht war. Sie hob die Decke etwas an, schaute darunter und sah einen großen, nassen Fleck, von dem ein warmer Pißgeruch ausging. Ihr kleiner Bruder hatte also ins Bett gemacht.

Katharina überlegte sich sofort, ob sie etwas dafür konnte. Nein, sie konnte nichts dafür, gar nichts. Sie erinnerte sich, wie er gestern kurz aufgewacht war, als sie noch mit der Großmutter plauderte, und die hätte ihn ja auch auf den Nachttopf setzen können. Von dann an hatte sie geschlafen bis jetzt.

Beim Gedanken an den Nachttopf fühlte sie plötzlich ein mächtiges Ziehen im Bauch. Solange niemand sie holte, wollte sie noch nicht hinuntergehen, deshalb stieg sie aus dem Bett, bückte sich, zog den Nachthafen hervor und setzte sich darauf. Mit einem hellen Geräusch prallte ihr Wasserstrahl auf den Boden des Gefäßes, danach klang es eher wie das Plätschern eines Brunnens, und dann war sie fertig. Rasch schob sie den Topf wieder unters Bett und ging zum Fenster.

Sie öffnete einen Flügel, klinkte den Haken, an dem der Laden eingehängt war, aus und stieß beide Fensterläden auf. Einen Moment lang mußte sie die Augen zukneifen.

Draußen lag die Landschaft da wie frisch gewaschen, alles war naß und glänzte, die Wiesen, die Bäume, die Felswände gegenüber, die Wälder und die Gräte. Viele kleine Wolken hingen an den Abhängen wie vergessene Putzlumpen. Der Himmel ließ sich nur stückchenweise blicken, die meisten Gipfel versteckten sich unter Nebeln, die ständig in Bewegung waren.

Im Berggrat gegenüber erkannte sie das Martinsloch, durch das zweimal im Jahr die Sonne auf Elm herunterschien, bevor sie aufging. Das letzte Mal, im Frühling, waren sie mit der ganzen Schulklasse auf die Wiese hinter der Kirche gegangen und hatten zugeschaut, wie die Sonnenstrahlen zuerst auf den Kirchturm trafen, wie sie dann die Dächer des Dorfes streiften samt ihnen allen, die da standen, und wie sie dann wieder verschwanden und erst ein bißchen später wiederkamen, als die Sonne über dem Grat richtig aufging.

Das hatte Katharina gefallen, und der Lehrer sagte damals auch, wie selten so etwas sei, das gebe es in der ganzen Schweiz nicht mehr, und deshalb seien auch extra Leute aus Zürich und St. Gallen gekommen und hätten im Gasthaus Elmer übernachtet, nur um diesen kurzen Gruß der Sonne durch das Martinsloch zu sehen. Am nächsten Tag passierte nochmals dasselbe, und dann mußte man ein halbes Jahr warten, bis es wieder soweit war. Eigentlich, dachte Katharina, kann es nicht mehr lang dauern, und hoffentlich regnet es dann nicht.

Der Lehrer hatte ihnen auch erklärt, warum die Sonne nicht immer am gleichen Ort aufging, es hing damit zusammen, daß die Tage länger und kürzer wurden, und auch, daß sich alle Sterne bewegten, sogar die Erde, obwohl man nichts davon merkte, wenn man am Morgen die Fensterläden aufmachte.

Jetzt mußte die Sonne schon aufgegangen sein, aber sie war irgendwo hinter dem Nebel weit oben verborgen.

Katharina blickte zum Steilhang des Plattenbergs hinüber. In der Mitte quollen einige graue Wölklein auf, die fast aussahen wie diejenigen nach den Sprengungen. Ob man von hier aus erkennen konnte, wo es gestern so gepoltert hatte? Alles, was ihr auffiel, war weit oben im Tschingelwald eine Reihe von Tannenbäumen, die so schief standen, als wären sie mitten im Fällen erstarrt. Vielleicht waren das die neben dem »großen Chlagg«, der Spalte, von der die zwei Wildheuer in der Gaststube erzählt hatten. Die sei so tief, hatten sie gesagt, daß man einen Stein, den man hineinwerfe, nicht aufschlagen höre.

Das glaubten sie ja selber nicht, schrie daraufhin einer mit geröteter Nase hinter einem Schnapsglas hervor, und als einer der Wildheuer zurückgab, er könne ja selber hochgehen, rief der Schnapstrinker, er sei nicht verrückt, und Peter Elmer sagte laut, wenn der hinaufginge, würde er wohl im Suff in den »Chlagg« stürzen, und dann würde man schon hören, wo er aufschlage. Daraufhin erhob sich der Rotnasige so schnell, daß der Tisch, an dem er saß, umkippte und sein Glas am Boden zersplitterte, und sofort standen alle andern auch auf und schauten sich lauernd an, und hätte sich nicht in dem Moment der Ätti dazwischengestellt und drohend gesagt, wenn sie sich prügeln wollten, dann draußen, hätte es bestimmt eine Schlägerei gegeben.

Es wäre für Katharina nicht die erste gewesen, und sie war denn auch sofort aufgestanden und zur Treppenhaustür getreten, damit sie wenn nötig fliehen konnte. War das aber nicht nötig, schaute sie jeweils mit Angst und Neugier zu, wie die Männer einander packten. Erst wenn Flaschen durch den Raum flogen, rannte sie schnell nach oben.