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Als Katharina den schäbigen Hühnerstall sah, der nicht viel höher war als sie selbst, fielen ihr sofort zwei schlecht geflickte Löcher im Gitter auf. Da konnte jedes Huhn hinaus, und wenn man das Stalltürchen noch so gut schloß.

»Kannst du zählen?« fragte Barbara unvermittelt.

Katharina nickte und zählte die Hühner, die sich bei ihrer Ankunft gluckernd versammelt hatten. »Sechs«, sagte sie.

Barbara hatte mitgezählt. »Also sind es alle. Kannst der Anna ausrichten, die Hühner kämen nicht von mir.«

Eben, Anna hieß das Grosi, jetzt kam es Katharina wieder in den Sinn.

Barbara schlurfte zurück zum Haus, die Buben trotteten wortlos mit. Katharina folgte ihnen und mußte über Rechen und Heugabeln steigen, die am Boden lagen. Hinter Barbara hergehend, glaubte sie den seltsamen Kräuterduft aus der Flasche zu riechen, was sie nicht verstand, Frauen trinken ja keinen Schnaps. Der kleinere der Buben trug ein Hemd, das ihm bis knapp über die Knie reichte; ein Riß ging am Rücken fast von oben bis nach unten, ein Riß, unter dem die Haut des Kleinen zu sehen war. Der hat kein Unterhemd, dachte Katharina.

»Bist nicht in der Schule?« fragte Barbara und schaute über die Schulter zurück.

Katharina war verdutzt. »Nein«, sagte sie leise. Das sah man doch, daß sie hier war und nicht in der Schule.

Sie waren wieder bei der Hundehütte angelangt, aus welcher der Hund mißtrauisch knurrte.

»Ruhig, Sauvieh!« sagte Barbara so böse, daß auch Katharina erschrak. Sofort duckte sich das Tier und verschwand in seinem Häuschen, dem ein Stück des Daches fehlte. Barbara blieb stehen und fragte: »Und ist das Kind schon da?«

Katharina überlegte einen Augenblick, bevor sie zur Antwort gab: »Wir wissen es nicht.« Dann fügte sie hinzu: »Gestern ist die Verena zu ihr gegangen.«

Barbara seufzte und sagte: »Das gibt noch ein Maul zum Stopfen.«

Zum ersten Mal machte einer der Kleinen den Mund auf und verlangte etwas zu essen, doch Barbara herrschte ihn an, es gebe jetzt nichts, er solle warten bis am Mittag. Der Kleine begann zu wimmern, doch Barbara stand ungerührt da und schwieg.

Da sagte Katharina: »Also, ade«, und ging rasch den Pfad hinauf.

Als sie in den Weg einbog, rief ihr Barbara mit scharfer Stimme nach: »Sag dem Anni, wenn die zwei Hühner keinen Meister haben, nehm ich sie schon!«

Katharina drehte sich um und hob die Hand zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Jetzt erst sah sie, daß aus dem Kamin von Barbaras Haus kein Rauch stieg. Ein hagerer Bursche, der langsam hinter der Tenne hervorkam und Katharina nachschaute, bekam von Barbara einen Schwall von Vorwürfen zu hören. Das war wahrscheinlich, dachte Katharina, der faule Hund Sepp, und sie sputete sich, um möglichst bald von diesem Haus wegzukommen, an dem sie alles abgestoßen hatte. Wenn sie das Bäsi nochmals hinschickte, würde sie nicht mehr gehen.

Sie fror ein bißchen und steckte ihre Hände in die Schürzentasche. Dort spürte sie die gedörrten Zwetschgen ihrer Mutter. Sie sah den hungrigen Kleinen wieder vor sich. Warum hatte sie ihm nicht eine davon gegeben?

In ihrem Kopf drängten sich die Antworten. Sie hatte erst jetzt gemerkt, daß sie welche dabei hatte, war eine, und die Barbara wäre wütend geworden, war die andere, und der zweite Bub hätte dann auch eine gewollt, die dritte. Das waren genug Antworten auf eine einzige Frage, und Katharina ging mit schnellen Schritten weiter, auf Grosis Haus zu, das jetzt oben am Weg auftauchte. Es begann zu tröpfeln. Mit Sonnenschein war also wieder nichts.

Schlimm war das, wenn einem der Mann starb, dachte Katharina, dann gibt’s überall Löcher, in den Kleidern, im Hühnerstall und auf der Hundehütte, die Rechen liegen herum, und die Kinder haben keine Strümpfe und Schuhe und müssen für eine Suppe in die Armenstube. Da war es am Ende noch besser, man hatte gar keinen Mann, wie die Elsbeth vom unteren Jaggli, dann konnte einem auch keiner wegsterben. Und Kinder hatte halt dann jemand anders von der Familie. Im Haus des unteren und des oberen Jaggli wohnte noch einmal eine ganze Familie, und die Väter waren die Jaggli-Söhne, die oberen und die unteren, und ein Bub des oberen Jaggli-Sohnes ging mit ihr zur Schule, der hieß auch wieder Jaggli und war ein Erstkläßler, und ein Bub des unteren Jaggli-Sohnes, der schon wieder Jaggli hieß, ging in die dritte Klasse, und alle hatten kleinere und größere Geschwister, und manchmal spielten sie zusammen auf dem Vorplatz der »Meur« Blindekuh, oder Verstecken beim Raminerbach hinten, und sie hatten es viel lustiger als die Kinder der Barbara hier oben.

Nero bellte, als er Katharina kommen hörte. Wieso wollte er sie denn nicht kennen?

»Brav, Nero …« sagte sie beschwichtigend, als sie in seine Nähe kam, doch der bellte weiter. Da dachte Katharina an Barbara und Schrie den Hund an: »Ruhig, Sauvieh!«, und zu ihrem Erstaunen war er sogleich ruhig und legte sich in seine Hütte.

»Die Nachttöpfe hast du vergessen«, sagte das Bäsi zu ihr, als sie gleich danach im Vorraum ihre Schuhe auszog.

»Ich wollte sie jetzt hinauftragen«, sagte Katharina.

»Wer’s glaubt«, sagte die Base etwas spitz.

»Sicher«, sagte Katharina, »ich hatte eben vorher die Schuhe schon an.« Warum glaubten einem die Erwachsenen nicht? Wenn sie groß wäre, würde sie allen Kindern glauben, wenn sie sagten, sie hätten die Nachttöpfe hinauftragen wollen.

»Und? Was ist mit den Hühnern?« fragte die Base.

»Sie gehören nicht der Barbara«, sagte Katharina, »sie hat noch alle. Ich habe sie selbst gezählt.«

»Und wieviel sind es?«

»Sechs«, sagte Katharina stolz.

Mit ihr konnte man rechnen, wenn es nicht um so etwas Einfältiges wie Nachthäfen ging. Man konnte sie allein zu fremden Leuten schicken, und sie konnte sogar ihre Hühner zählen.

Die Base schüttelte den Kopf. »Merkwürdig«, sagte sie.

10

»Und dann ist er ausgestiegen, der Noah, aus der Arche, mit seiner ganzen Sippschaft, als die Taube nicht mehr zurückkam und er sah, daß er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, auf dem Berg Ararat, und der liebe Gott hat einen großen Regenbogen scheinen lassen zum Zeichen, daß er wieder Frieden haben wollte mit den Menschen.«

»Und die Tiere?«

»Die sind alle herausspaziert aus der Arche und haben sich auf der Erde verbreitet.«

Katharina saß in der Stube am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, und hörte ihrer Großmutter zu, die auf dem Sofa neben dem Ofen lag.

Diese war gegen Mittag wieder aufgestanden und hatte eine Suppe gekocht, mit Rüben und Graupen drin. Die Base hatte am Vormittag Windeln und auch das Leintuch am Brunnen gewaschen, und Katharina hatte mit ihr zusammen alles in der Tenne aufgehängt. Den Tropfen, die sie beim Heimweg vom hinteren »Bleiggen«-Haus gespürt hatte, war ein richtiger Regen gefolgt.

Paul war mißmutig nach Hause gekommen. Er hatte am Morgen mit Emden angefangen und dann mitten drin wieder aufgehört, als der Regen kam. Der Herrgott, sagte er am Mittagstisch, wolle offenbar mit den Elmern ein Hühnchen rupfen, vielleicht sei er doch nicht zufrieden, daß sie das alte Gesangbuch abgeschafft hätten. Die Großmutter tadelte ihn deswegen, doch Paul meinte, der Herrgott werde wohl noch einen Spaß verstehen, oder was meinst du, Didi? Nun tadelte ihn seine Frau, er solle dem Kind nicht solche Fragen stellen, und Katharina war froh, denn sie wußte keine Antwort.

Nach dem Mittagessen nahm die Großmutter ein Stück Zucker, auf das sie Baldriantropfen träufelte, und beide Kinder durften sich aus der Blechdose mit den verschnörkelten Blumen darauf auch eines heraus holen. Danach mußte Kaspar ins Bett für einen Mittagsschlaf. Er wollte die Holzpuppe Lisi mitnehmen, aber Katharina wehrte sich dagegen und setzte sie auf die Bank hinter dem Ofen in der Stube, und die Großmutter legte sich auf das Sofa, um sich auszuruhen. Sie wisse nicht, was sie habe, sagte sie, es sei ihr einfach nicht gut, aber das werde schon vorbeigehen. Dann hatte Katharina gefragt, wie die Sintflut zu Ende gegangen sei, und die Großmutter hatte ihr nochmals die ganze Geschichte erzählt.