»Am Sonntag gibt es eine Taufe«, sagte Regula, »ich habe das Kind gesehen.«
»Wo?« fragte Katharina.
»Bei der Kleophea in den Müslihäusern.«
»Und wie sieht es aus?« fragte Katharina.
Regula lachte. »Winzig«, sagte sie, »winzig klein, fast wie eine Puppe.«
»Bub oder Mädchen?« fragte Katharina weiter.
»Bub«, sagte Regula.
»So klein?« fragte Kaspar. Er hatte Katharinas Lisi hervorgezogen.
Regula lachte noch mehr. »Kannst denken«, sagte sie, »soo klein«, und sie zeigte mit den Händen das Maß des Säuglings.
Kaspar war enttäuscht. Zuerst hatte sie gesagt, wie eine Puppe, und nun war es gar nicht wahr.
Katharina nahm ihm die Puppe weg und steckte sie wieder in das Bündelchen. »Gell, die Verena ist gut?« fragte sie ihre Schwester.
»Gewiß«, sagte diese, »die hat Kraft. Die zieht sogar Kinder mit den Füßen voran aus dem Bauch.«
»Wir gehen jetzt«, sagte Katharina und nahm ihren kleinen Bruder an der Hand, »ade.«
»Ade zusammen«, sagte Regula und setzte ihren Rückweg fort.
Katharina ging mit Kaspar über die eiserne Brücke. In der Mitte blieb sie stehen und schaute zwischen dem Geländer auf den Sernf, der unten durchfloß. Vom vielen Regen hatte er hohe braune Wellen, es fehlte nicht viel, und er würde überlaufen. An seinem Grund hörte sie die Steine rumpeln. Oder kam das Geräusch vom Plattenberg? Es war nicht nur ein Rumpeln, es war auch ein Rieseln.
»Will weiter«, sagte Kaspar und zog sie an der Hand.
»Nein, wart doch«, sagte Katharina, »hörst du die Steine rumpeln am Boden des Bachs?«
»Komm«, sagte Kaspar und zog stärker.
»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte seine Schwester, »die Brücke hält.« Gerade trieb ein Erlenbusch unter ihnen hindurch und tanzte talwärts, an den Kartoffeläckern und den Pflanzgärten vorbei, auf denen einzelne Menschen gebückt umhergingen, den Weiden und Sträuchern entgegen, zwischen denen der Bach verschwand.
Gerne hätte Katharina gewartet, bis der Busch nicht mehr zu sehen gewesen wäre, aber die Furcht ihres Bruders war stärker.
»Angsthase«, murmelte Katharina, als sie mit dem Kleinen weiterging.
Ein Pferd wieherte so stark, daß sie erschrak. In der Schmitte gleich neben dem Bach nagelte der Schmied einem Roß neue Hufeisen an. Kaspar, der sich wieder sicherer fühlte, blieb stehen und wollte zuschauen. Der Schmied, ein breitschultriger Mann in einer schwarzen Schürze, drehte seinen geröteten Kopf einen Moment lang zu ihnen und lachte den beiden zu. Bei ihm stand der Kutscher der Pferdepost in einer blauen Bluse und einem Strohhut und hielt das Pferd am Zaumzeug fest. »Ruhig, Hassan«, sagte er zu ihm, »nur ruhig – nicht daß du mir am Sonntag mit den Engländern in den Bach fällst.« Der Schmied nickte und hämmerte weiter, das Pferd hörte nicht auf zu wiehern, und der Kutscher fuhr fort, besänftigend auf das Tier einzusprechen.
Kaspar wollte wissen, warum der Mann dem Roß auf den Fuß haue, und Katharina sagte ihm, ohne Hufeisen könnten die Pferde nicht laufen.
»So, Kinder, soll ich euch auch eins an den Fuß nageln?« rief der Schmied herüber und schwenkte mit einer Zange ein dampfendes Hufeisen. Dazu grinste er, und der Kutscher bleckte seine gelben Zähne.
Kaspar lief erschrocken davon, der Landstraße zu, und seine Schwester folgte ihm schnell. Die Erwachsenen machten gern solche Späße, und Katharina haßte sie dafür. In der Wirtsstube hatte sie schon oft betrunkene Männer gesehen, und in diesem Zustand traute sie ihnen alles zu, sogar daß sie einem Kind ein Hufeisen an die Fersen nageln würden, warum nicht.
2
Wäre Katharina unterwegs zur Schule gewesen, wäre sie auf der Landstraße nach links abgebogen, ins Dorf, aber nun schlug sie den Weg nach rechts ein, auf dem in der Ferne ein hoch beladenes Fuhrwerk talauswärts holperte.
Die Schule hatte erst diese Woche wieder begonnen, vorher waren die großen Sommerferien. Lehrer Wyss unterrichtete die erste bis vierte Klasse, und Katharina besuchte die zweite Klasse. Gewöhnlich waren am Morgen die Dritt- und Viertkläßler dran, und am Nachmittag die erste und die zweite Klasse, außer am Freitag, da war es umgekehrt. Gemeinsam mit den Großen hatten sie nur Heimatkunde und Singen, am Dienstag und am Samstag, denn alle vier Klassen zusammen fanden kaum Platz im Schulzimmer, in eine Schulbank für zwei mußten sich drei hineindrücken, und dann standen immer noch ein paar Kinder an den Wänden.
Heute vormittag hatte Katharina dem Lehrer gesagt, daß sie zu ihrer Großmutter mußte, wegen der Geburt, und daß sie am Montag wiederkomme. Der Lehrer hatte nur genickt und »Alles Gute« gebrummt. Ihm war es, so schien es Katharina, ziemlich gleichgültig, wer zur Schule kam und wer nicht. Wer zu Hause helfen mußte, konnte sowieso jederzeit wegbleiben. Während des Emdens waren die Klassen manchmal nur noch halb so groß, wie beim Heuet auch. Darauf freute sich Katharina, sie hoffte, daß sie dann der Lehrer öfters aufrufen würde. Sie langweilte sich im Unterricht, der ihr viel zu langsam vorwärts ging. Alles, was die Zweitkläßler können mußten, hatte sie schon in der ersten Klasse gelernt, sie kannte alle Buchstaben, konnte jedes Wort lesen, und auch mit den Zahlen hatte sie keine Mühe. In der ersten Klasse lernte man zusammenzählen, in der zweiten abziehen, in der dritten vermehren, in der vierten teilen. Katharina verstand nicht, wieso man zusammenzählen und abziehen nicht gleichzeitig lernte. Wenn zwei und drei fünf gab, dann gab fünf weniger drei zwei, das war doch klar.
Anna Elmer, die neben ihr saß, hatte das noch immer nicht begriffen, obwohl sie auch eine Zweitkläßlerin war. Manchmal mußten sich die zwei, die in der selben Bank saßen, gegenseitig abfragen, und heute morgen hatte Anna Elmer Katharina gefragt, wieviel fünf und eins gebe, und Katharina hatte gesagt sechs, und dann hatte Katharina Anna gefragt, wieviel sechs weniger fünf gebe, und Anna hatte es nicht gewußt und war sogar wütend geworden, als Katharina gesagt hatte, eins. Sie hatte sie angezischt, sie könne ruhig etwas länger warten, bis sie fertig nachgedacht habe, doch für Katharina war es unbegreiflich, daß jemand, der wußte, daß fünf und eins sechs gibt, nicht auch weiß, daß sechs weniger fünf eins gibt. Aber vielleicht wußte Anna nicht einmal, daß fünf und eins sechs gab. Katharina hatte sich noch überlegt, ob sie Anna zuerst fragen wolle, wieviel sechs weniger eins gibt, das wäre einfacher gewesen, aber sie fand es dann klüger, zu schweigen. Anna hatte sie schon einmal an den Haaren gerissen, als ihr Katharina das Wort »Herbst« vorgelesen hatte, das Anna einfach nicht buchstabieren konnte, sie hatte gemeint, es heiße »Erbs«. Sollte sie halt dumm bleiben, wenn sie sich von ihr nicht helfen lassen wollte.
Jakob hatte Katharina auch das Vermehren schon beigebracht. Dreimal zwei Kinder gab sechs Kinder. Mit dem neuen Kind wären sie jetzt dann sechs Kinder, Anna und Regula, Jakob und sie selbst, Kaspar und das neue, macht sechs. Und wenn man sechs Kinder durch zwei Kinder teilte, dann – das war ihr noch nicht ganz klar, wie man Kinder durch Kinder teilte, aber das kam ja auch erst in der vierten Klasse.
Katharina hörte Rufe und Schreie und sah, daß eine Gruppe von Kindern zwischen dem Schützenhaus und dem Brunnen Blindekuh spielte. Sie ging näher und blieb mit Kaspar am Straßenrand stehen, um ein bißchen zuzuschauen. Fridolin war dabei, der Bub der Hebamme, Burkhard, der in ihrer Klasse war, Anna, die in der Schule neben ihr saß, mit ihren jüngeren Geschwistern Matthias und Gretli. Ihr älterer Bruder Oswald, der in die dritte Klasse ging, hatte das Tuch um den Kopf gebunden und tappte zwischen den kichernden Kindern herum, die alle möglichst nahe zu ihm kamen und ihn mit lauten Rufen foppten, um gleich danach wieder zurückzuhüpfen. »Osi, da bin ich!« rief Anna, »siehst du mich nicht?« Als Anna davonsprang, rannte ihr Oswald nach, Anna versteckte sich rasch hinter Katharina am Straßenrand, und Oswald stolperte in sie hinein, daß sie hinfiel. »Paßt doch auf!« rief Katharina wütend, aber Anna lachte nur, und Oswald nahm die Binde von den Augen, hielt sie Katharina hin und sagte: »Jetzt bist du die blinde Kuh!« »Ich spiele gar nicht mit«, sagte Katharina und versuchte sich den Dreck von der Pelerine zu wischen, aber diese war so naß, daß die Flecken nur noch schlimmer wurden. »Schon zu spät!« rief Burkhard und band ihr von hinten das Tuch um die Augen.