In der Stube waren sie mit dem Kirchenlied zu Ende, und jetzt hörte man Pauls Stimme. Wahrscheinlich sagte er etwas Lustiges, denn gleich darauf wurde gelacht, und nun sangen sie wieder ein Lied, aber keins aus der Kirche, sondern »Dort oben uf em Bärgli«, wo es am Schluß immer hieß »Diritumdee, diritumdee, heidelidum, s het’s niemer gseh.«
Dieses Lied gefiel Katharina. Zwar war sie nie dahinter gekommen, was es genau war, das niemand gesehen hatte, aber sie vermutete, es habe mit dem zu tun, was man nachts hinter dem Haus tat, wenn man alt genug war dafür. Oder wieso hieß es sonst vom Seppli, der keine Lust zum Melken hat: »Er stellt der Chübel uf d Syte und tanzet mit der heidelidum, er stellt der Chübel uf d Syte und tanzet mit der Magd.« Bestimmt ging es nicht lange, und die zwei würden hinter dem Stall verschwinden, um sich dort zu küssen. Oder eigentlich konnten sie das auch gleich im Stall tun, wenn es doch niemand sah.
Bald kam wieder die Kirchweih, und da würde auch in der »Meur« wieder gesungen, getanzt und Musik gemacht, bis tief in die Nacht hinein. Darauf freute sich Katharina; das letzte Mal hatte sie schon mitgeholfen, den Tanzsaal zu schmücken. Es gab dort eine Truhe, die ganz mit farbigen Papiergirlanden gefüllt war, und diese hatte sie zusammen mit Regula über die Geweihe gespannt, die an den Wänden hingen. Abends kamen dann die Musikanten, mit einer Handorgel und einer Klarinette, und der Mann mit der Baßgeige hatte ihr sogar erlaubt, die Saiten zu zupfen, und Katharina hatte fast nicht geglaubt, daß sie so tiefe Töne machen konnte. Und abends kamen die Burschen mit Blumen und Federn auf den Hüten, ganz anders, als wenn sie zur Arbeit ins Schieferwerk gingen, und jeder bezahlte einen Franken und bekam dafür ein Rosmarinsträußchen, damit man sah, daß er bezahlt hatte, und diese Sträußchen hatte Katharina zusammen mit Regula gebunden, das hatte ihnen Hans-Kaspar aufgetragen, der bei den Spielbuben war, welche die Musik mitbrachten und das Essen bestellten, meistens roch es im ganzen Haus nach Gemspfeffer und Murmeltierfett an diesem Tag. Die Mädchen waren besonders schön anzuschauen in ihren weiten Faltenröcken, die beim Tanzen so fröhlich herumwirbelten, und auch sie waren mit Blumen geschmückt, die hatten sie in ihre Zöpfe geflochten, aber die wichtigste Blume war die, die sie sich an die Brust gesteckt hatten, nämlich wenn die Nelke nach unten schaute, hatte das Mädchen noch keinen, mit dem sie hinters Haus ging, und wenn die Nelke nach oben schaute, hatte sie schon einen.
Das Heidelidum-Lied in der Stube unten war zu Ende, und diesmal stimmte Fridolin ein neues an, und zwar das vom Floh, der ins Elsaß wollte, um ein Fuder Wein zu bekommen.
Katharina mochte dieses Lied. Sie wußte zwar nicht, wo das Elsaß war, aber dort mußte es alles geben, denn es hieß vom Floh, er käme ins Schlaraffenland, beim linken Haus zur rechten Hand, und Katharina kam in den Sinn, wie der Vater vor ein paar Tagen gesagt hatte, wenn es so weiterregne, dann verfaulten die Kartoffeln wieder, und sie müßten wie letztes Jahr welche aus dem Elsaß kommen lassen. Kartoffeln gab es also dort im Überfluß, soviel stand fest. Aber daß die Kühe auf Stelzen gingen und der Esel auf dem Seil tanzte und die Geißen Stiefel anzogen, das war ein Witz, das kam nur im Lied vor, und dem Floh gefiel das so, daß er sich ein Haus kaufte und dort blieb, und vielleicht sollten sie alle zusammen ins Elsaß hinunter, Vater, Mutter, Anna, Jakob, Regula, sie und Kaspar und das Neugeborene, mit den Kühen und der Katze, und sich dort ein Haus kaufen, neben dem vom Floh, und dann könnten sie zuschauen, wie die Kühe auf Stelzen gingen, am Ende würde es ihre Lobe auch lernen, und auch Bleß und Stern, die noch auf der Falzüber-Alp waren, und die Menschen müßten selbst auf Stelzen steigen, um die Kühe melken zu können, der Esel auf dem Seil hielt die Stelzen bereit, und man hüpfte ganz leicht und locker über das Seil bis zum Esel, der in der Mitte stand und einen zu sich winkte, dann stellte man sich auf die Stelzen, und der Esel gab einem noch den Melkkübel in die Hand, aber der Sepp, der faule Hund, hatte seinen Kübel abgestellt und tanzte mit einer Magd, die hatte rote Stiefel an und einen Faltenrock, der herumwirbelte, und als sie einmal das Gesicht zu Katharina drehte, war es gar keine Magd, sondern eine Geiß, mit einer geknickten Nelke in der Schnauze, die nach unten hing, und sie richtete ihre glasigen Augen blitzschnell gen Berg und stampfte so fest auf den Boden, daß die Hirschgeweihe in den Häusern von den Wänden fielen und die Fensterscheiben klirrten und die Kuhschädel über den Tennstoren schief hingen.
14
Als Katharina aus dem Bett stieg, um sich auf den Nachttopf zu setzen, trat sie auf etwas Hartes und stieß einen kleinen Schreckensruf aus. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, sah sie ihre Holzpuppe, auf deren Kopf sie mit der Ferse gestanden war. Nachdem sie ihr Wasser ins Nachtgeschirr gelassen hatte, schob sie dieses unter die Bettstatt, packte Lisi und kroch mit ihr zusammen wieder unter die warme Decke. Neben ihr regte sich Kaspar und richtete sich auf.
»Muß brünzeln«, sagte er.
Ungern wand sich Katharina nochmals aus den Leintüchern, ging ums Bett herum und zog Kaspars Nachthafen darunter hervor.
»Komm«, sagte sie, hob die Decke auf und streckte ihm die Hand hin.
Katharina fürchtete, der Nachttopf werde überlaufen, so lange ließ Kaspar sein Wasser fließen.
»Bin fertig«, sagte er schließlich, stand auf und stieg wieder ins Bett.
Katharina stellte den Nachthafen mit leichtem Ekel unters Bett und sagte: »Wir haben ein Schwesterlein.«
»Wo?« fragte Kaspar.
»In der ›Meur‹«, antwortete Katharina, »zu Hause.«
»Kein Brüderlein?« fragte Kaspar.
»Nein«, sagte Katharina, »ein Schwesterlein.«
Es dauerte eine Weile, bis sich Kaspar hören ließ.
»Will trinken«, sagte er.
Katharina seufzte. Gerade hatte sie wieder ins Bett einsteigen wollen.
»Kannst du nicht warten?« fragte sie, »bald ist Morgen.«
»Hab Durst«, sagte Kaspar.
Katharina dachte daran, daß Kaspar gestern erbrochen hatte und vielleicht krank war.
»Wart«, sagte sie, »ich gehe in die Küche.«
Die Tür zum Schlafgaden stand immer noch ein wenig offen, Katharina stieß sie ganz auf und ging die Treppe hinunter, die leise knarrte. Sie betrat die Küche, die im spärlichen Morgendämmerlicht seltsam fremd aussah, so ganz ohne einen Menschen darin. Ein kalter Geruch von Kartoffeln und Kräuterschnaps hing über dem Tisch, das Geschirr von gestern abend stand samt der Pfanne auf dem Brett neben dem Spültrog, offenbar hatte niemand mehr abgewaschen.
Jetzt sah Katharina den großen Teekrug neben dem Wasserschaff. Sie faßte ihn am Henkel, hob ihn herunter und schaute hinein. Er war leer. Sie hielt ihren Finger ins Schaff. Das Wasser war lauwarm. Also mußte sie am Brunnen draußen frisches Wasser holen. Sie nahm sich eine Trinkkachel vom Brett, füllte mit dem Schöpflöffel etwas laues Wasser hinein, ging zum Spültrog und schüttete das Wasser aus.
Dann ging sie in den Vorraum, zog sich die Schuhe an und stopfte die Bändel mit hinein, so daß sie sie an ihren Füßen spürte. Ob die Haustür abgeschlossen war? Nein. Sie drückte die schwere Falle hinunter und traute ihren Augen nicht.
Durch den ersten Spalt, den die Tür freigab, schlüpfte Züsi, ihre Katze aus der ›Meur‹, und strich Katharina miauend um die Beine.
»Züsi, was machst du da?« fragte Katharina leise, kauerte sich nieder, die Kachel in der einen Hand, und streichelte die Katze mit der andern. Keine Verwechslung möglich, es war ihre Katze, das getigerte Muster des Fells, die schwarzen Pfoten und der weiße Fleck hinter dem Ohr. Von oben hörte sie Kaspar jammern. Wie konnte man laut und leise zugleich rufen?