Anna weinte, Katharina drehte sich um, hob sie auf und schleppte sie ans Fenster, auf der Treppe waren schnelle Schritte zu hören.
»Was war das?« fragte die Base, als sie gleich darauf in die Stube trat.
»Ein Stück vom Berg ist abgebrochen«, antwortete Katharina und zeigte auf die rauchende Stelle.
»Das kann doch nicht sein«, sagte die Base und trat zu Katharina ans Fenster.
Das Echo des Donners grollte von allen Bergwänden, dazu rumpelte es im Tal unten, als ob ein Riese mit Felsblöcken kegelte.
Langsam wurde es still. Ein leichter Wind trieb feine Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Die Spatzen, die den ganzen Nachmittag um das Haus herum gelärmt hatten, waren verstummt. Die Staubwolke an der Abbruchstelle blähte sich immer stärker auf. Dahinter mußte ein großes kahles Stück liegen, sie brauchten nur zu warten, bis sich die Wolke auflöste, dann würden sie das Loch im Wald sehen.
»Hoffentlich kommen sie bald zurück«, murmelte die Base, und fügte dann aufseufzend hinzu: »Zum Glück ist der Paul nach Steinibach.«
Katharina stellte sich vor, wo Steinibach lag, hinter dem Dorf, weit vom Plattenberg weg. Dann sagte sie:
»Aber das Grosi ist im Untertal.«
»Vielleicht ist es schon auf dem Heimweg«, sagte die Base.
»Ja«, sagte Katharina, »und vielleicht bringt es die Mama und den Ätti und alle andern mit.«
»Wo denkst du hin«, sagte die Base schroff, »wer im Kindbett liegt, läuft nicht den Berg hinauf.«
»Und wenn man sie trägt?« fragte Katharina.
»So schlimm wird’s schon nicht sein«, sagte die Base.
Anna, die immer noch von Katharina umklammert wurde, wimmerte.
»Komm«, sagte die Base, öffnete ihre Bluse und hob die Kleine an ihre Brust. Aber Anna stieß sich mit den Fäustchen von ihrer Mutter ab und wollte nicht trinken.
»Dann halt nicht«, sagte die Base, ging zum Korb neben dem Ofen und legte ihr Kind hinein. Aber dieses begann so verzweifelt zu schreien, daß sie es sofort wieder herausnahm und auf den Armen zu wiegen begann.
»Nina, butti, Wiegeli
Uf em Dach het’s Ziegeli«,
sang sie leise und beschwörend, und Katharina, die immer noch am Fenster stand, hoffte inständig, daß die Ziegel noch auf dem Dach der »Meur« lagen und daß nicht einer dieser üblen Brocken auf das Haus gerollt war, in dem jetzt wahrscheinlich alle außer ihr versammelt waren, Mutter, Vater, Anna, Regula, Jakob, Kaspar und das Neugeborene, wie immer es hieß, denn Sonntag war der Tag, an dem man zu Hause blieb, wenigstens wenn man von der Kirche und der Kinderlehre zurück war; dann gab es gewöhnlich ein gutes Mittagessen, manchmal kochte die Mutter einen Braten, und für die Kinder legte sie zusätzlich ein Brot in die Pfanne, das sie dann mit der Bratensauce übergoß, so daß das Brot, das wunderbar mürb und weich war, wie Fleisch schmeckte. Das nannte sie Kinderbraten, und es war so gut, daß auch ihre große Schwester Anna, die doch kein Kind mehr war, fast lieber davon aß als vom wirklichen Braten.
Am Nachmittag mußten die Eltern jeweils die Wirtschaft hüten, und die Kinder durften bei schönem Wetter vor dem Haus spielen, und wenn es regnete, mußten sie im oberen Stock bleiben und ruhig sein. Das war nicht einfach, vor allem wollte Kaspar immer beschäftigt sein. Das einzige Spielzeug, das sie gemeinsam hebten und umkämpften, war das Schaukelpferd, aber sonst waren seine Spiele nicht die von Katharina. Johannes hatte ihnen einmal aus der Schreinerei schöne kleine Holzklötze gebracht. Damit saß Kaspar gern im Gang und schichtete sie aufeinander, doch wenn ihm ein Turm oder ein Haus zusammenbrach, begann er immer zu heulen, und man mußte das eigene Spiel unterbrechen, um ihm beim Wiederaufbau zu helfen.
Katharina durfte, seit sie in der Schule war, mit Jakob und Regula »Ich weiß etwas« spielen, und das gefiel ihr sehr. Sie saßen dann alle drei auf dem Bett, und eines von ihnen dachte an etwas Bestimmtes, vielleicht an die Sonne, und die andern mußten durch Fragen herausfinden, was es war. Ist es etwas Lebendiges, war eine gute Frage, ist es aus Holz, oder ist es aus Stein, war eine andere Frage, kann man es anfassen, sollte man auch irgendeinmal fragen, gerade die Sonne konnte man ja nicht anfassen, oder den Wind oder eine Regenwolke auch nicht. Für jede Frage gab es einen Strich auf der Schiefertafel, und wer sich das Schwierigste ausgedacht hatte, für das man am meisten Strichlein machen mußte, hatte gewonnen. Jakob dachte oft an etwas Blödes, zum Beispiel an seine Unterhosen, und Regula dachte gern an Kinder, die mit ihr in die Schule gingen, und Katharina hatte einmal eine Runde gewonnen, als sie an das Kind dachte, das ihre Mutter im Bauch trug, da waren die andern fast nicht draufgekommen, denn es war etwas Lebendiges, das man trotzdem nicht anfassen konnte, Regula und Jakob überboten sich in den kühnsten Vermutungen von Adler bis Walfisch, die Katharina alle stolz kichernd verneinte und mit einem Kreidestrich erledigte, bis Regula schließlich als fünfundfünfzigste Frage die richtige stellte, und Katharina erinnerte sich gut, wie ihre Schwester dabei rot geworden war.
Plötzlich kam Katharina etwas in den Sinn, das sie vergessen hatte. Während das Bäsi mit der kleinen Anna auf den Armen von der Stube in die Küche ging, kroch sie zum schwarzen Knöchelsennenhund und machte mit ihm den Weg auf den Ofen, indem sie ihn in kurzen Abständen auf den Boden setzte. Kein Lämmergeierflug diesmal, denn Sultan war schließlich ein Wach- und Hirtenhund und mußte überall hinschauen, ob nicht ein Tier unterwegs verlorengegangen war.
Anna war wieder ruhig geworden, und die Base kam mit ihr von der Küche zurück.
»Katharina, wo bist du?« fragte sie erschrocken.
Katharina war soeben bei der Bauernfamilie auf dem Ofen angekommen und setzte den Hund zu den Schafen. »Gerettet«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
19
Katharina saß im Schneidersitz auf dem Stubentisch und hielt die kleine Anna in den Armen.
Aus der Küche war das Knistern des Feuers zu hören, das die Base im Herd angemacht hatte, und der Duft von Tannenholz verbreitete sich sachte im ganzen Raum. Katharina hatte das kleine Kind auf ihren rechten Oberschenkel gesetzt, hielt es mit dem einen Arm umfangen, und mit der Hand des andern Arms stützte sie es vorn. Sie zeigte ihm, was sie sah.
»Siehst du, dort, wo’s grau ist, mitten im grünen Wald, dort ist alles heruntergefallen.«
Die Wolke, mit welcher die Abbruchstelle vor einer Viertelstunde bedeckt war, hatte sich langsam aufgelöst. Ein großer Riß ging quer über den Abhang. Katharina sah ihn sehr gut dort, wo der Fels abgebrochen war, und sie ahnte ihn dort, wo er im Tannenwald verschwand. Das mußte der Erdspalt sein, von dem die Wildheuer erzählt hatten.
»Siehst du den dunklen Strich? Das ist der große Chlagg.«
Anna versuchte wieder nach einem von Katharinas Zöpfen zu greifen.
Katharina wiegte ihren Kopf hin und her und sang:
»Der große Chlagg, der große Chlagg.«
»Was sagst du da?« fragte die Base, die in der Stubentür erschien.
»Man sieht den großen Chlagg«, sagte Katharina.
»Wo?« fragte die Base.
»Au!« rief Katharina. Die kleine Anna hatte einen Zopf erwischt und zog daran. Als Katharina die winzigen Fingerchen von ihrem Haar gelöst hatte, warf sie ihren Kopf nach hinten, daß ihr die Zöpfe über die Schultern hingen, und zeigte dem Bäsi den Chlagg.
»Du meinst, das sei er?« fragte das Bäsi.
Katharina nickte. Wieso meinen? Natürlich war er das. Sie wunderte sich über die Base. Sie habe immer gemeint, der sei weiter oben, sagte diese. Schon wieder meinen. Katharina nahm sich vor, wenn sie einmal erwachsen wäre, so wenig wie möglich zu meinen.