»Komm, Kathrinli«, sagte die Großmutter halblaut. Sie stand schon unter der Tür, mit der Klinke in der Hand.
Katharina ging an ihr vorbei und blieb dann vor der Tür zum offenen Zimmer stehen.
»Grüß dich, Didi«, sagte die Frau, die auf der Bettkante saß und ihrem Säugling die Brust gab.
»Grüß dich, Bäsi«, murmelte Katharina und schaute auf die Brust der Frau, an welcher das Kind mit weit aufgerissenen Augen saugte. Es war deutlich größer als Kleopheas Kleines, das sie vorhin gesehen hatte, und Bäsis Brust war noch größer als die Brust Kleopheas, und die war schon groß gewesen.
Die Base wohnte hier, bei der Großmutter, und ihr Mann war der Vetter. Er war aber nur der Vetter für Katharina, sonst hieß er Paul. Neben ihm wohnten noch zwei Vettern hier, Johannes und Fridolin. Vetter und Base hieß man, wenn man der Bruder oder die Schwester vom Vater oder der Mutter war, oder auch die Frau des Bruders vom Vater oder der Mutter. Katharina war nicht sicher, welcher Fall genau auf das Bäsi zutraf, das vor ihr saß und nun zu ihr sagte: »Bist eine Tapfere, hast den ganzen Weg durch den Regen gemacht.«
Auf Katharinas Gesicht erschien ein Lächeln.
»Das war ja ein Donnerwetter wie schon lang nicht mehr«, fuhr das Bäsi weiter, indem es mit Daumen und Zeigefinger seine Brust quetschte, worauf der Säugling laut aufschmatzte. »Hast du keine Angst gehabt?«
Diese Frage gefiel Katharina nicht.
Natürlich hatte sie Angst gehabt, und ohne den kleinen Kaspar, den sie beschützen mußte und der sich noch viel mehr fürchtete, wäre sie gestorben vor Angst.
Aber wer zugab, daß er Angst hatte, wurde gewöhnlich ausgelacht. Angsthase war eines der bösesten Schimpfwörter unter den Kindern, und eigentlich auch unter den Erwachsenen. Hatte nicht gestern abend derselbe Bergführer Elmer, der Mann der Hebamme also, in der Gaststube zu Beat Rhyner gesagt, er sei ein Schißhase? Und der war aufgestanden und hatte dem andern zurückgegeben, die Gemsen, die er schieße, hätten mehr Verstand als er, denn sie seien so weit oben wie seit Jahren nicht mehr um die Zeit, und er solle die mal fragen gehen, ob sie Schißhasen seien oder was.
Die Männer hatten sich über die Felsblöcke gestritten, die den Hang herunterkamen, ob das etwas zu bedeuten habe oder nicht.
Katharina kannte Beat Rhyner gut, er wohnte auch in der »Meur«, im hinteren Teil, er war Bannwart und einen Kopf größer als ihr Vater, und er war sicher kein Angsthase. Aber Beat Rhyner hatte auch nicht gesagt, er habe Angst, sondern hatte alles auf die Gemsen geschoben. Seine Frau war die Barbara, und sie hatten fünf Kinder, gleich viel wie sie, aber jetzt wären es dann bald nicht mehr gleich viel, wenn die Mutter das sechste zur Welt bringen würde. Vielleicht kam ja bei Rhyners auch noch mal eins auf die Welt, das konnte man nie im voraus wissen, dann hätten beide Familien wieder gleich viel Kinder. Hoffentlich war die Hebamme inzwischen bei der Mutter.
»Hast du keine Angst gehabt?« fragte Bäsi nochmals. Ihr Kind hatte aufgehört zu saugen und lag mit geschlossenen Augen in ihrem Arm.
Katharina hob den Kopf, schaute die Frau mit dem schlafenden Säugling an und sagte: »Doch.«
5
»Die sind bald trocken«, sagte die Großmutter.
Sie hatte die Nachthemden und die Leibwäsche der beiden Kinder über die Stange oben am großen Schieferofen in der Stube gelegt. Beim Offnen des Bündelchens hatte Katharina gemerkt, daß der ganze Inhalt naß geworden war. Sie setzte ihre Holzpuppe Lisi auf das Sofa neben dem Ofen. »Hier kannst du dich wärmen«, sagte sie zu ihr und warf einen prüfenden Blick auf die Großmutter.
Ihr Vater war nämlich der Meinung, Kinder, die zur Schule gingen, sollten nicht mehr mit Puppen spielen. Deshalb mußte man sich immer vergewissern, daß er nicht in der Nähe war, wenn man die Puppe hervornahm, oder es war gut, sich zuerst bei der Mutter zu versichern, daß er nicht nächstens nach Hause kam. Katharina hatte das nie begriffen. Lisi war schon immer ihr liebstes Spielzeug gewesen, und gerade wenn sie sich in der Schule gelangweilt hatte, spielte sie um so lieber mit ihr, oft setzte sie die Puppe auf ein Holzscheit als Schulbank, und Katharina war der Lehrer Wyss, und zuerst war Lisi dümmer als Anna Elmer und wußte nicht einmal, was eins und eins gab, aber dann, wenn der Lehrer drohend auf sie zukam und ein kleines Haselzweiglein vor ihrer Nase schwang, wußte sie plötzlich alles und war sogar gescheiter als der Lehrer, sie warf mit Zahlen über tausend nur so um sich.
Als die Großmutter keinerlei Warnungen hören ließ und ihre Enkelin sogar lobte, daß sie so gut für ihre Puppe sorge, wurde Katharina klar, daß es hier gar keinen heimkehrenden Vater zu befürchten gab, denn der Großvater war ja schon gestorben, am Kropf, wie stirbt man nur an einem Kropf, und der Vetter Paul, der sicher bald heimkäme, war ein fröhlicher Mann, der gern Späße mit ihr machte, der hatte sicher nichts dagegen, wenn eine Holzpuppe auf dem Ofensofa saß. Eigentlich war der Ätti auch ein fröhlicher Mann, und er machte auch gern Späße mit ihr. Früher hatte er sie oft in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, oder sie stellte sich vor ihn hin, bückte sich und streckte die Hände unter ihren Beinen hindurch dem Vater entgegen, dieser packte sie, zog und hob sie gleichzeitig hoch, daß sie sich überschlug und einen Moment lang nicht wußte, wo unten und oben war, und dann stellte er sie vor sich hin auf den Boden und sagte: »Dieser Käse ist gekehrt.« Leider hatte er das schon lange nicht mehr getan. Seit Kaspar dieses Spiel entdeckt hatte, machte es der Vater nur noch mit ihm.
Überhaupt schien es ihr, daß Kaspar Ättis eigentlicher Liebling war. Wenn der Kleine lange genug bettelte, bekam er auch dann noch einen Birnenschnitz, wenn der Vater für sie keinen mehr herausrückte. Letzthin hatte dieser ihren älteren Bruder Jakob erwischt, wie er im Vorratsraum ein paar gedörrte Schnitze holen wollte, und hatte ihn sofort übers Knie gelegt und ihm den Hintern verhauen. Jakob hatte weinend gerufen, wieso Kaspar Schnitze bekomme und er nicht, da hatte der Ätti bloß gesagt, er solle das Maul halten, sonst kriege er dort auch noch eins drauf.
Katharina schauderte es bei solchen Szenen, sie floh dann ins Kinderschlafzimmer, ließ aber die Tür offen, damit ihr nichts entging. Die Erwachsenen, das fiel ihr auf, schlugen gern drein, wenn ihnen nichts mehr in den Sinn kam. Hatte Jakob nicht recht gehabt, als er die Frage wegen Kaspar stellte? Und hatte Jakob nicht recht gehabt, daß er auf eigene Faust versuchte, das zu bekommen, was Kaspar auch bekam? Nein, offenbar nicht. So war es nun einmal, die Erwachsenen durften bestimmen, was recht ist und was nicht, und sie durften auch sagen, etwas sei recht, wenn es gar nicht recht war. Wenn man ein Kind war und recht haben wollte, kam es selten gut heraus.
Vor der Mutter mußte man sich weniger fürchten, die riß die Kinder nur manchmal an den Haaren oder zog sie am Ohrläppchen, aber auch sie nahm sich selten die Mühe festzustellen, wer recht hatte. Wenn zwei von ihnen in Streit gerieten, packte sie einfach beide am Ohr oder stieß ihnen die Köpfe zusammen und sagte: »Damit ihr wißt, warum ihr heult.«
Katharina war überzeugt, daß sie selbst einmal ganz anders würde, wenn sie groß wäre. Gerecht wollte sie sein, gerecht, aber auch gnadenreich, wie der Kaiser von China im Lesebuch. Der hatte einen Beamten wegen eines Diebstahls dazu verurteilt, daß ihm beide Hände abgehauen würden. Da kam die Tochter des Beamten zum Kaiser, warf sich vor ihm auf die Knie und hielt ihm ihre eigenen Hände hin, damit man ihr diese statt den Händen ihres Vaters abhaue. Darauf war der Kaiser so gerührt, daß er dem Vater die Strafe erließ. Diese Geschichte hatte ihr Regula aus ihrem Lesebuch vorgelesen, »Eine Heidin, die ihren Vater mehr liebt, als sich selbst« hieß sie, und auf Katharina hatte sie einen solchen Eindruck gemacht, daß sie die Geschichte immer wieder selbst lesen wollte, bis ihr Regula das Buch wegnahm und sagte, das bekomme sie dann in der fünften Klasse noch früh genug.
»Was denkst du, Kind?« fragte die Großmutter. Sie stand unter der Stubentür, und Katharina saß immer noch neben ihrer Holzpuppe auf dem Sofa.
»Haut man den Leuten bei uns auch die Hände ab, wenn sie stehlen?« fragte Katharina.
»Didi, wie kommst du darauf?« fragte die Großmutter erschrocken, »wo soll es denn so etwas geben?«
»In China«, sagte Katharina, »bei den Heiden, so steht es im Lesebuch.«
»Eben, bei den Heiden«, sagte die Großmutter, »aber nicht bei uns. Bei uns kommt man ins Gefängnis, wenn man stiehlt. Das ist schlimm genug.«
Draußen bellte ein Hund.
»Der Paul kommt«, sagte die Großmutter, »er war mit Nero bei den oberen Matten.«
Katharina stand auf und ging durch die Küche in den Vorraum. Sie wollte den Hund sehen. Als sie zur Haustüre kam, legte ihr Vetter seinen schwarzen Sennenhund an die Kette des Hundehäuschens, und das nasse Tier schüttelte sich so kräftig, daß die Wassertropfen nach allen Seiten stoben.
»Kannst nicht warten?« sagte Paul und lachte. Dann sah er Katharina und sagte zu Nero: »Schau, die Didi ist da. Geh, pack sie!«
Sofort begann Nero zu bellen, und Katharina machte einen schnellen Schritt zurück über die Schwelle. Das waren wieder diese Erwachsenenspäße, die gefielen Paul, aber ihr gefielen sie nicht.
»Der frißt dich nicht!« rief Paul, um gleich danach fortzufahren: »Hast du schönes Wetter mitgebracht?«
Katharina wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Grüß dich, Vetter«, sagte sie leise und ging dann zum Grosi in die Küche. Gerne hätte sie den Hund gestreichelt, aber jetzt getraute sie sich nicht mehr. Der Vetter hatte ihn ja gegen sie aufgehetzt, und wer weiß, ob Nero sie noch kannte vom letzten Besuch. In der »Meur« hatten sie keinen Hund. Sie hätten früher einen gehabt, hatte ihr die Mutter einmal erzählt, aber der habe dauernd die Gäste in der Wirtschaft angeknurrt, und deshalb hätten sie ihn töten müssen und wollten keinen mehr. Katharina fand das schade. Sie hatten zwar Züsi, die Katze, die konnte man auch streicheln, aber eine Katze war nicht dasselbe wie ein Hund. Eine Katze würde nie mit zu den oberen Matten kommen, bei einer Katze mußte man froh sein, wenn man sie ab und zu am Futtertröglein sah, sonst machte sie, was sie wollte. Auch daß sie Mäuse fing, nahm ihr Katharina übel, obwohl der Vater sagte, dazu sei sie da. Als Züsi einmal auf dem Vorplatz mit einer Maus spielte, die sie gefangen hatte und immer wieder ein bißchen laufen ließ, war es Katharina gelungen, die Maus zu retten, indem sie Züsi packte und sie wegzutragen versuchte. Die Katze wehrte sich und war so aufgebracht, daß sie Katharina mit einer Pfote in die Wange fuhr und ihr einen blutigen Kratzer verpaßte. Das Mäuslein aber war inzwischen unter der Bank neben der Haustür verschwunden, es hinterließ eine winzige Blutspur, doch wenigstens war es mit dem Leben davongekommen. An das Brennen der Arnikatinktur, die ihr die Mutter auf die Wunde träufelte, erinnerte sich Katharina noch gut, und auch an das Brennen der tadelnden Worte des Vaters, der bei dieser Gelegenheit sagte: »Dazu ist sie da«, und nach einer kleinen Pause hinzufügte: »Du Tötschli!«
Und sie erinnerte sich auch noch sehr gut an den Seitenblick, der sie von ihrer Mutter traf, als diese dem Vater zwei verwelkte Salate aus ihrem Vorgärtlein zeigte und sagte: »Die Mäuse waren an den Wurzeln.«
Das war gewesen, bevor sie in die Schule kam. Seither hütete sie sich, der Katze dreinzupfuschen, wenn sie das tat, wozu sie da war. Manchmal jedoch, beim Abendgebet, wenn die Mutter einen Moment still war und man für jemanden beten konnte und Katharina niemand einfiel, dachte sie an die kleinen Blutstropfen auf dem Vorplatz und betete für die Mäuslein, damit sie die Katze nicht erwische.
Trotzdem streichelte sie die Katze gerne, es war schön, wenn das Tier dabei zufrieden schnurrte und den Buckel etwas stellte. Warum streichelten sich die Menschen nicht ebenso? Oder taten sie es nur heimlich, nachts hinter dem Haus, oder wenn sie zueinander »mis Böckli« sagten?
»Margret, wie geht’s der Anna?« rief der Vetter im Flur nach oben, und von oben hörte man ein »Pssst!« der Base, und dann ein leichtes Knarren der Treppenstufen. »Sie schläft«, sagte sie zu ihrem Mann, und dann traten die beiden in die Küche.
»So ein Sauwetter!« sagte Paul und schüttelte den Kopf fast wie sein Hund vorhin, »man wird naß bis auf die Knochen.«
Die Großmutter schenkte ihm aus ihrer großen Kanne einen Kräutertee ein, und der Base auch, und beide setzten sich an den Küchentisch, und sie sprachen davon, ob man emden solle oder nicht, die Großmutter erzählte, wer alles schon geemdet habe, und Paul sagte, denen verfaule das Heu im Schober, so feucht sei es, und er wolle einfach warten, bis wenigstens einen Tag die Sonne scheine, das werde doch Petrus einmal einrichten können, oder was wohl in den gefahren sei, heute habe er ja gedonnert wie schon lang nicht mehr, gell, Didi, es hätte nicht viel gefehlt, und du hättest den Berg hinauf schwimmen müssen.
Katharina nickte stumm. Wieder so ein Witz, den Berg hinaufschwimmen … Sie konnte sowieso nicht schwimmen, wo auch, wie auch, niemand konnte schwimmen im Dorf. Im Sommer, wenn es heiß war, versuchten die Buben manchmal, mit Steinbrocken ein kleines Becken am Raminerbach zu stauen und legten sich dann in den Unterhosen ins kalte Wasser, aber das war nichts für Mädchen. Katharina setzte sich gern ans Ufer des Baches und tauchte ihre Füsse hinein, bis es sie fror. Dann hielt sie die Füsse an die Sonne, bis sie wieder durch und durch warm waren. Frieren war schön, wenn man sich nachher wieder aufwärmen konnte. Hoffentlich war Lisi inzwischen trocken. Und warum wechselte Paul seine Kleider nicht? Sein hellblaues Hemd war über den Schultern und bis zu den Ellbogen dunkelblau von der Nässe. Wieso sagte die Großmutter nichts dazu? Sie war doch die Mutter von Paul. Oder war sie die Mutter der Base? Als Katharina mit Kaspar hereingekommen war, konnten sie sich nicht einmal an den Tisch setzen, so schnell war die Großmutter mit den neuen Kleidern da. Aber der Vetter war erwachsen, die Base war auch erwachsen, da konnte einem die Mutter nichts mehr befehlen.
»Ich hab die zwei abgeholt«, sagte die Großmutter, »als es am ärgsten gewitterte, waren sie beim Ende der unteren Matte.«
»Die zwei?« fragte Paul. Ob denn die Regula oder der Jakob noch mitgekommen seien. Nein, der Kaspar, sagte die Großmutter, wenn’s ans Gebären gehe, seien ja immer die Kleinsten am lästigsten, und Kaspar sei so müde gewesen, daß er am Küchentisch eingeschlafen sei.
»Was hältst denn du vom Wetter, Kathrinli?« fragte der Vetter unvermittelt.
Auf diese Frage war Katharina nicht gefaßt. Gerade hatte sie sich überlegt, daß man nach der Geburt des neuen Kindes von ihr nicht mehr sagen könne, sie gehöre zu den Kleinsten, und daß es schon deshalb gut war, wenn dieses Kind so bald wie möglich zur Welt käme. Und Kaspar würde sich wundern, wie schnell es ginge, bis das neue Kind Ättis Liebling wäre. Die Kleinsten waren seltsamerweise nicht nur die lästigsten, sondern auch die liebsten.
»He?« doppelte der Vetter nach und zwinkerte ihr fröhlich zu.
Katharina ärgerte sich. Was sollte diese Frage? War das wieder ein Scherz? Was konnte sie denn vom Wetter halten? Dasselbe wie alle. Ein Sauwetter. Auch sie hatte lieber, wenn die Sonne schien. Sie atmete tief auf und sagte: »Vielleicht kommt bald die Sintflut.«
Erstaunt blickten sie die drei Erwachsenen an.