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»Was denkst du, Kind?« fragte die Großmutter. Sie stand unter der Stubentür, und Katharina saß immer noch neben ihrer Holzpuppe auf dem Sofa.

»Haut man den Leuten bei uns auch die Hände ab, wenn sie stehlen?« fragte Katharina.

»Didi, wie kommst du darauf?« fragte die Großmutter erschrocken, »wo soll es denn so etwas geben?«

»In China«, sagte Katharina, »bei den Heiden, so steht es im Lesebuch.«

»Eben, bei den Heiden«, sagte die Großmutter, »aber nicht bei uns. Bei uns kommt man ins Gefängnis, wenn man stiehlt. Das ist schlimm genug.«

Draußen bellte ein Hund.

»Der Paul kommt«, sagte die Großmutter, »er war mit Nero bei den oberen Matten.«

Katharina stand auf und ging durch die Küche in den Vorraum. Sie wollte den Hund sehen. Als sie zur Haustüre kam, legte ihr Vetter seinen schwarzen Sennenhund an die Kette des Hundehäuschens, und das nasse Tier schüttelte sich so kräftig, daß die Wassertropfen nach allen Seiten stoben.

»Kannst nicht warten?« sagte Paul und lachte. Dann sah er Katharina und sagte zu Nero: »Schau, die Didi ist da. Geh, pack sie!«

Sofort begann Nero zu bellen, und Katharina machte einen schnellen Schritt zurück über die Schwelle. Das waren wieder diese Erwachsenenspäße, die gefielen Paul, aber ihr gefielen sie nicht.

»Der frißt dich nicht!« rief Paul, um gleich danach fortzufahren: »Hast du schönes Wetter mitgebracht?«

Katharina wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Grüß dich, Vetter«, sagte sie leise und ging dann zum Grosi in die Küche. Gerne hätte sie den Hund gestreichelt, aber jetzt getraute sie sich nicht mehr. Der Vetter hatte ihn ja gegen sie aufgehetzt, und wer weiß, ob Nero sie noch kannte vom letzten Besuch. In der »Meur« hatten sie keinen Hund. Sie hätten früher einen gehabt, hatte ihr die Mutter einmal erzählt, aber der habe dauernd die Gäste in der Wirtschaft angeknurrt, und deshalb hätten sie ihn töten müssen und wollten keinen mehr. Katharina fand das schade. Sie hatten zwar Züsi, die Katze, die konnte man auch streicheln, aber eine Katze war nicht dasselbe wie ein Hund. Eine Katze würde nie mit zu den oberen Matten kommen, bei einer Katze mußte man froh sein, wenn man sie ab und zu am Futtertröglein sah, sonst machte sie, was sie wollte. Auch daß sie Mäuse fing, nahm ihr Katharina übel, obwohl der Vater sagte, dazu sei sie da. Als Züsi einmal auf dem Vorplatz mit einer Maus spielte, die sie gefangen hatte und immer wieder ein bißchen laufen ließ, war es Katharina gelungen, die Maus zu retten, indem sie Züsi packte und sie wegzutragen versuchte. Die Katze wehrte sich und war so aufgebracht, daß sie Katharina mit einer Pfote in die Wange fuhr und ihr einen blutigen Kratzer verpaßte. Das Mäuslein aber war inzwischen unter der Bank neben der Haustür verschwunden, es hinterließ eine winzige Blutspur, doch wenigstens war es mit dem Leben davongekommen. An das Brennen der Arnikatinktur, die ihr die Mutter auf die Wunde träufelte, erinnerte sich Katharina noch gut, und auch an das Brennen der tadelnden Worte des Vaters, der bei dieser Gelegenheit sagte: »Dazu ist sie da«, und nach einer kleinen Pause hinzufügte: »Du Tötschli!«

Und sie erinnerte sich auch noch sehr gut an den Seitenblick, der sie von ihrer Mutter traf, als diese dem Vater zwei verwelkte Salate aus ihrem Vorgärtlein zeigte und sagte: »Die Mäuse waren an den Wurzeln.«

Das war gewesen, bevor sie in die Schule kam. Seither hütete sie sich, der Katze dreinzupfuschen, wenn sie das tat, wozu sie da war. Manchmal jedoch, beim Abendgebet, wenn die Mutter einen Moment still war und man für jemanden beten konnte und Katharina niemand einfiel, dachte sie an die kleinen Blutstropfen auf dem Vorplatz und betete für die Mäuslein, damit sie die Katze nicht erwische.

Trotzdem streichelte sie die Katze gerne, es war schön, wenn das Tier dabei zufrieden schnurrte und den Buckel etwas stellte. Warum streichelten sich die Menschen nicht ebenso? Oder taten sie es nur heimlich, nachts hinter dem Haus, oder wenn sie zueinander »mis Böckli« sagten?

»Margret, wie geht’s der Anna?« rief der Vetter im Flur nach oben, und von oben hörte man ein »Pssst!« der Base, und dann ein leichtes Knarren der Treppenstufen. »Sie schläft«, sagte sie zu ihrem Mann, und dann traten die beiden in die Küche.

»So ein Sauwetter!« sagte Paul und schüttelte den Kopf fast wie sein Hund vorhin, »man wird naß bis auf die Knochen.«

Die Großmutter schenkte ihm aus ihrer großen Kanne einen Kräutertee ein, und der Base auch, und beide setzten sich an den Küchentisch, und sie sprachen davon, ob man emden solle oder nicht, die Großmutter erzählte, wer alles schon geemdet habe, und Paul sagte, denen verfaule das Heu im Schober, so feucht sei es, und er wolle einfach warten, bis wenigstens einen Tag die Sonne scheine, das werde doch Petrus einmal einrichten können, oder was wohl in den gefahren sei, heute habe er ja gedonnert wie schon lang nicht mehr, gell, Didi, es hätte nicht viel gefehlt, und du hättest den Berg hinauf schwimmen müssen.

Katharina nickte stumm. Wieder so ein Witz, den Berg hinaufschwimmen … Sie konnte sowieso nicht schwimmen, wo auch, wie auch, niemand konnte schwimmen im Dorf. Im Sommer, wenn es heiß war, versuchten die Buben manchmal, mit Steinbrocken ein kleines Becken am Raminerbach zu stauen und legten sich dann in den Unterhosen ins kalte Wasser, aber das war nichts für Mädchen. Katharina setzte sich gern ans Ufer des Baches und tauchte ihre Füsse hinein, bis es sie fror. Dann hielt sie die Füsse an die Sonne, bis sie wieder durch und durch warm waren. Frieren war schön, wenn man sich nachher wieder aufwärmen konnte. Hoffentlich war Lisi inzwischen trocken. Und warum wechselte Paul seine Kleider nicht? Sein hellblaues Hemd war über den Schultern und bis zu den Ellbogen dunkelblau von der Nässe. Wieso sagte die Großmutter nichts dazu? Sie war doch die Mutter von Paul. Oder war sie die Mutter der Base? Als Katharina mit Kaspar hereingekommen war, konnten sie sich nicht einmal an den Tisch setzen, so schnell war die Großmutter mit den neuen Kleidern da. Aber der Vetter war erwachsen, die Base war auch erwachsen, da konnte einem die Mutter nichts mehr befehlen.

»Ich hab die zwei abgeholt«, sagte die Großmutter, »als es am ärgsten gewitterte, waren sie beim Ende der unteren Matte.«

»Die zwei?« fragte Paul. Ob denn die Regula oder der Jakob noch mitgekommen seien. Nein, der Kaspar, sagte die Großmutter, wenn’s ans Gebären gehe, seien ja immer die Kleinsten am lästigsten, und Kaspar sei so müde gewesen, daß er am Küchentisch eingeschlafen sei.

»Was hältst denn du vom Wetter, Kathrinli?« fragte der Vetter unvermittelt.

Auf diese Frage war Katharina nicht gefaßt. Gerade hatte sie sich überlegt, daß man nach der Geburt des neuen Kindes von ihr nicht mehr sagen könne, sie gehöre zu den Kleinsten, und daß es schon deshalb gut war, wenn dieses Kind so bald wie möglich zur Welt käme. Und Kaspar würde sich wundern, wie schnell es ginge, bis das neue Kind Ättis Liebling wäre. Die Kleinsten waren seltsamerweise nicht nur die lästigsten, sondern auch die liebsten.

»He?« doppelte der Vetter nach und zwinkerte ihr fröhlich zu.

Katharina ärgerte sich. Was sollte diese Frage? War das wieder ein Scherz? Was konnte sie denn vom Wetter halten? Dasselbe wie alle. Ein Sauwetter. Auch sie hatte lieber, wenn die Sonne schien. Sie atmete tief auf und sagte: »Vielleicht kommt bald die Sintflut.«

Erstaunt blickten sie die drei Erwachsenen an.

6

Katharina saß zuunterst am langen Tisch in der Küche, oder war es zuoberst, neben ihrer Base, und hörte zu, wie die Vettern stritten.

Sie saßen ihr gegenüber, Paul war der älteste, aber auch der kleinste von allen, er war sogar etwas kleiner als seine junge Frau, das war Katharina aufgefallen, als die beiden zusammen zur Küchentür hereinkamen. Er hatte krauses Haar und listige Augen. Er sprach schnell, und Katharina traute ihm nicht ganz, wie allen, die gern Witze machten. Wer einen Witz machte, sagte nicht das, was er meinte, und Katharina fürchtete immer, er sage das, was er meine. Wie sollte sie sofort merken, ob ihr ein Schmied ein Hufeisen an die Ferse nageln wollte oder ob ein Vetter vielleicht einen Sennenhund auf sie losließ?