Johannes hingegen war groß, bedächtig und gutmütig. Er sprach langsamer als Paul, bei ihm war sie sicher, daß er das meinte, was er sagte. Auch er hatte krauses Haar, aber ein breiteres Gesicht und eine große Nase, und seine Lippen standen immer ein bißchen offen, auch wenn er nichts sagte.
Fridolin war der einzige von den dreien, der einen Schnurrbart trug. Seltsam, daß auch er krauses Haar hatte, denn das Haar der Großmutter war ganz glatt, sie hatte es nach hinten gekämmt und dort zu einem Zopf geflochten, der wie eine zusammengerollte Schlange auf ihrem Hinterkopf lag. Katharina wußte nicht, wie alt die Großmutter war, sie wußte nur, daß sie noch viele Söhne und Töchter hatte, viel mehr als ihre Eltern, und eigentlich müßte eine solche Frau schon längst graue Haare haben, wie die alte Elsbeth im Haus neben der »Meur«, aber Grosis Schlangenzopf war braun und kräftig, und ihre Haut war zwar etwas runzlig, aber sie hatte eine Farbe wie frisches Birnenbrot.
Fridolin schaute, wenn er redete, immer ein bißchen nach oben, als blicke er in die Berge. Gerade hatte er erzählt, wie er heute zu einem Taglohn gekommen war, obwohl die Schieferwerke, in denen er arbeitete, gestern wegen der Steinschlaggefahr geschlossen wurden. Er hatte den Leuten von der Wirtschaft »zum Martinsloch«, die genau unter dem Steilhang des Plattenbergs stand, geholfen, ihre Sachen auf ein Fuhrwerk zu tragen und damit nach Matt zu Verwandten zu fahren. Dort hatten sie Kästen, Truhen, Betten, Tische und Stühle in eine Scheune gestellt, bis das Gröbste vorbei sei, wie Fridolin sagte.
Die seien ja nicht bei Trost, fand Paul, das Gröbste sei doch längst vorbei, und wegen der paar Steine mache man wohl nicht einen Gasthof zu, jetzt gehen halt alle, die eins trinken wollen, in die »Meur«, das kommt dann deinem Vater zugut, gell, Didi, der ist nicht so ein Angsthase und fährt Knall auf Fall nach Matt, wenn’s am Berg oben ein bißchen rumpelt.
Katharina nickte nur. Schon wieder tauchte dieses Wort auf, an dem sie keine Freude hatte. War man wirklich ein Angsthase, wenn man nicht von einem Stein getroffen werden wollte? Was mußte man denn sein, wenn man kein Angsthase sein wollte? Ein Muthase? Katharina kam kein passendes Wort in den Sinn für jemanden, der sich unten an eine Wand stellte, aus der Steine herunterfielen.
Nun entgegnete Fridolin seinem Bruder, das Gegenteil sei der Fall, und nicht bei Trost wären die Wirtsleute, wenn sie bleiben würden, denn vorgestern sei es ja vom Gelben Kopf heruntergekommen und hätte die halbe Rütiweid zugedeckt, daß sogar der Gemeinderat hinaufgegangen sei, und gestern um fünf habe es einen solchen Knall gegeben, als schieße General Suworow aus der größten Kanone auf die Franzosen, und was da den Berg herabgekugelt sei, habe die halben Schiefermagazine kaputt gemacht, ein Glück, daß es keinen von ihnen getroffen habe, und beim »Martinsloch« sei ein Felsen direkt hinters Haus gefallen, so daß die Fensterscheiben zersprungen und die Hirschgeweihe von den Wänden gefallen seien, und der nächste Brocken könne mir nichts dir nichts auf das Hausdach fallen, da sei noch genug Ware oben.
Jetzt drehte sich Johannes zu ihm und fragte ihn, warum er denn noch weiter im Schiefer arbeite, wenn es so gefährlich sei.
Wo er denn sonst arbeiten solle, fragte Fridolin und blickte zu seinem und seiner Brüder Schatten, die durch die Talglichter auf dem Tisch wie eine Bergkette an die Wand geworfen wurden. »Viereinhalb Franken am Tag«, sagte er, »wo verdiene ich das. Etwa in deiner Schreinerei?«
Im Moment, sagte Paul, verdiene er offenbar gar nichts am Tag, wenn die von der Gemeinde nichts besseres wüßten, als den Schieferbruch zu schließen.
Die von der Gemeinde wüßten schon, was sie machen, sagte Fridolin, und morgen gehe eine Kommission an den Hang hinauf, um nachzusehen, was los sei.
Wer denn dabeisein werde, bei dieser Kommission, fragte Paul spöttisch.
Er habe gehört, sagte Fridolin, der Bergführer Elmer werde mitgehen.
»Der Peter?« fragte Johannes erstaunt.
Nein, der Heiri, und ein Gemeinderat, und dann sicher noch jemand vom Kanton.
»So, so, vom Kanton«, sagte Paul, »und wer wohl?«
Das wußte Fridolin nicht, und einen Augenblick lang schwiegen sie und schauten auf ihre Tassen, auf ihre Teller mit den Käserinden und die leere Schüssel, in der die Kartoffeln gewesen waren.
»Der Förster Seeli«, sagte Katharina.
Alle Köpfe drehten sich zu ihr, die Bergkette an der Wand schwankte, die Gipfel neigten sich zur Seite, als stürzten sie im nächsten Moment ein.
»Woher willst du das wissen, Kind?« fragte das Grosi.
Diesen Namen hatte ihr Nachbar, der Bannwart, heute mittag dem Vater in der Gaststube genannt, und Katharina hatte so lange gelacht, bis sie der Vater zurechtgewiesen hatte, denn sie begriff nicht, daß jemand so heißen konnte, und erst noch ein Förster, sie stellte sich einen kleinen See vor, der durch den Wald wanderte und zwischen den Bäumen durchflutschte.
Erneut mußte sie ein bißchen lachen und sagte den zugewandten Köpfen, woher sie den Namen hatte.
»Schau, schau, die Didi«, sagte Paul und nickte, und dann sagte er zu seinem jüngsten Bruder, wenn es dem Seeli und seinen Kumpanen einfallen sollte, die Schieferwerke zu schließen, könne er ihm ja beim Emden helfen.
Was er bezahle, gab Fridolin sofort zurück. – Ein Viertel, sagte Paul. – Roten oder Weißen? Das sei wohl nicht sein Ernst – Nein, ein Viertel des Schieferlohnes, mehr könne er nicht geben, und er gehöre schließlich zur Familie und wohne auch hier – dafür gebe er der Mutter ja ein Kostgeld ab – aber davon habe er nichts, und so ging es hin und her, bis Johannes seinem Bruder die Hand auf die Schulter legte und sagte, er könne auch zu ihm in die Schreinerei kommen, sie könnten einen Handlanger brauchen, und er denke, er kriege dort die Hälfte des Schieferlohnes, auf jeden Fall mindestens 2 Franken.
Katharina hatte den Verdacht, das sei nicht ganz die Hälfte, 2 Federn kosten 4 Rappen, was kostet 1 Feder, das war die Art von Rechnungen, und bei viereinhalb müßte man einhalb auch durch zwei teilen, aber das konnte sie noch nicht.
Ob sie dem Zentner sein Haus neu täfern müßten oder wieso sie auf einmal zu wenig Leute hätten, fragte Paul.
Nein, erwiderte Johannes, es gehe um etwas anderes.
»Worum denn?« fragte Fridolin.
»Um das Sarglager«, sagte Johannes. Der Meister habe festgestellt, daß sie fast keine Särge mehr hätten, und sie sollten immer von jeder Größe ein paar auf Vorrat haben, man wisse nie, wann man den nächsten benötige. Letzte Woche hätten sie gleich zwei Säuglingssärge gebraucht, als der Elmer Luise die neugeborenen Zwillinge kurz hintereinander gestorben seien, und jetzt seien die Kindersärge ausgegangen, ganz zu schweigen von denen für Dicksäcke oder Bohnenstangen, fügte er mit schwerem Lachen bei.
Pauls schnelles Lachen kam hinzu, Fridolin lächelte abwesend, die Großmutter schüttelte mißbilligend den Kopf, und die Base sagte: »Aber Johannes.«
Katharina lachte nicht mit. Beim Wort »Kindersärge« war sie zusammengezuckt. Sie sah wieder das Grab von Afra Bäbler vor sich, und dann dachte sie, daß ein Säuglingssarg höchstens halb so groß war wie ein Kindersarg. Der Schreiner kauft für einen Kindersarg Bretter von 5 Fuß Länge. Er halbiert sie für einen Säuglingssarg. Wie lang wird der Säuglingssarg? Rechne Fuß und Zoll in die neuen Maße um. Und auf einmal war sie wieder im Zimmer bei ihrer heftig atmenden Mutter. Was, wenn das Kleine sterben würde, gleich nach der Geburt? Müßte ihm dann Johannes ein Särglein schreinern? Mit Fridolin als Handlanger? Sie nahm sich vor, beim Nachtgebet ganz fest dafür zu beten, daß das Kind gut auf die Welt kam und mit ihnen aufwachsen konnte, damit es auf keinen Fall ein Särglein brauchte und stark genug wurde, um später mit Kaspar auf die »Bleiggen« zu gehen, wenn das nächste auf die Welt käme.