Robert Silverberg
Die Sternriesen
1.
Dunkelviolette Schatten strichen über den Himmel, und der Wald war häßlich und drohend. Lloyd Harkins lehnte sich an den Stamm eines mächtigen rotbraunen Baumes und sah sich benommen um, bemüht, sich zu orientieren.
Er wußte, daß er in einer anderen Welt war. Aus seiner eigenen Welt war er verschwunden, so plötzlich, daß er nicht einmal das Gefühl des Überganges oder der Bewegung gehabt hatte — nur einfach ein seltsames unterschwelliges Gefühl des Verlustes der Welt, die er kannte und an deren Stelle eine andere getreten war.
Er hörte in der Ferne einen rollenden Donner, der den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ und immer lauter wurde. Vögel mit glänzenden zahnbewehrten Schnäbeln und weitausladenden Schwingen kreisten kreischend an dem schattenüberzogenen Himmel, und die Luft war kühl und feuchtigkeitsgesättigt. Harkins umklammerte den Baum, als wäre er die letzte Bastion der Wirklichkeit in einer Welt der Träume.
Aber der Baum bewegte sich.
Er hob sich vom Boden, schwang nach vorne und in die Höhe und zog Harkins mit sich. Das Geräusch des Donners rückte näher. Harkins schloß die Augen, öffnete sie wieder und staunte.
Etwa drei Meter zu seiner Rechten bewegte sich noch ein Baum.
Er legte den Kopf in den Nacken, spähte in den wolkenverhangenen Himmel und fand die Tatsache, die er nichtwahrhaben wollte, bestätigt. Die Bäume waren keine Bäume!
Es waren Beine!
Die Beine eines unvorstellbar großen Wesens, dessen Kopf sich fünfzehn oder mehr Meter über die Decke des dunklen Waldes hob. Ein Wesen, das begonnen hatte, sich in Bewegung zu setzen.
Harkins klammerte sich verzweifelt an das Bein, um bei den fünf Meter langen Schritten des Kolosses nicht abgeworfen zu werden. Langsam begann die Welt um ihn Gestalt anzunehmen, und er begann die Kontrolle über seinen vor Angst förmlich erstarrten Geist zurückzuerlangen.
Durch das helle Grün der Vegetation konnte er das Wesen sehen, an das er sich klammerte. Es war gigantisch, aber entfernt menschenähnlich und trug eine Art Jackett und Shorts, die etwa acht Meter über Harkins Kopf endeten. Von da an abwärts war eine rotbrauneHaut zu sehen, die etwa die Konsistenz von Holz besaß. Harkins kennte sogar weit oben so etwas wie ein Gesicht erkennen — ein Gesicht mit ausgeprägten fremdartigen Zügen.
Er begann sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Es war ein Wald — aber wo? Auf der Erde offenbar — aber auf einer Erde, die vor ihm noch niemand gekannt hatte. Die Himmelshalbkugel über ihm war mit kräftigen dunklen Farben durchsetzt, und die Vögel, die am Himmel kreisten, wirkten wie Wesen aus einem Alptraum.
Die Erde war braun und die Vegetation grün, wenn sich auch alles andere geändert hatte.
„Wo bin ich?“ fragte sich Harkins wieder und wieder.
Er fand keine Antwort. Der Tag hatte ganz normal begonnen. Am frühen Nachmittag, am 21. April 1963, hatte er sich auf dem Weg zu dem Elektronik-Laboratorium in New York City befunden. Und jetzt war er hier, wo auch immer dieses ,Hier’ sein mochte.
Sein ,Träger’ schritt weiter durch den Wald, offenbar ohne von dem Mann, der sich an seine Wade klammerte, etwas zu bemerken. Harkins Arme begannen bereits zu ermüden, und plötzlich überkam ihn der Gedanke, warum lasse ich eigentlich nicht los? Und das tat er dann auch.
Er trat auf den Boden und blieb flach liegen. Der Boden war warm und roch angenehm nach Wachstum und Fruchtbarkeit, und einen Augenblick klammerte er sich daran, wie er sich vorher an den ,Baum’ geklammert hatte. Dann rappelte er sich auf und sah sich hastig nach einem Versteck um.
Aber da war keines. Und eine Hand senkte sich auf ihn herab — rotbraun, riesengroß und mit schimmernden zugespitzten Nägeln bewehrt. Sanft hob die Hand des Riesen Harkins vom Boden ab.
Er empfand Schwindel, als er von der Hand fünfzehn Meter in die Höhe gehoben wurde. Die Hand öffnete sich, und Harkins fand sich auf einer Handfläche von der Größe einer Tischplatte und blickte in ein fremdartiges ovales Gesicht mit tiefliegenden, aber nicht unfreundlichen Augen und einem breiten, fast lippenlosen Mund, in dem dreieckige Zähne blitzten. Das Wesen schien beinahe so etwas wie Mitleid mit Harkins zu empfinden.
„Wer sind Sie?“ fragte Harkins.
Das Lächeln des Wesens wurde breiter und noch melancholischer, aber es gab keine Antwort — nur das Rufen der Waldvögel und der ferne Donner waren zu hören. Harkins spürte, wie er an die Seite des Riesen heruntergelassen wurde, und dann begann das Wesen seinen Weg durch den Wald wieder fortzusetzen, wobei es niedrige Büsche einfach niedertrat. Harkins, dessen Magen bei jedem Schritt zu revoltieren drohte, saß in der Hand des Riesen, die dieser locker geschlossen hielt.
Nach einem Zeitraum von vielleicht zehn Minuten blieb der Riese stehen. Harkins sah sich überrascht um. Der Donner war jetzt ganz nahe, und man konnte jetzt auch das Dröhnen fallender Bäume hören. Der Riese stand ganz still da, die mächtigen Beine gespreizt, und wartete.
Minuten vergingen — und dann sah Harkins, weshalb der Riese stehengeblieben war.
Auf sie kam eine Maschine zu, die etwa fünf Meter hoch war. Sie hatte grob Menschengestalt, war aber viel kompakter. Ein einhornartiger Vorsprung glitzerte an dem vernickelten Kopf des Roboters, und anstatt auf Beinen bewegte er sich auf breiten Gleisketten.
Der Roboter schob die Bäume, die ihm den Weg versperrten, mit kraftvollen Bewegungen seiner massigen Arme weg, so daß sie nach links und rechts stürzten.
Der Riese blieb reglos stehen und blickte starr auf die häßliche Maschine hinunter, während diese vorbeizog. Der Roboter achtete nicht auf Harkins’ ,Träger’, sondern wühlte sich weiter durch den Wald, als folgte er einem vorbestimmten Kurs.
Minuten später war er verschwunden — eine Spur entwurzelter Sträucher und Bäume hinter sich lassend. Als der Donner seiner Bewegung in der Ferne verhallte, setzte der Riese seinen Weg durch den Wald fort.
Harkins ließ sich geduldig tragen — er wagte im Augenblick nicht mehr an Flucht zu denken.
Nach einer Weile tauchte eine Lichtung auf, und Harkins entdeckte mit einer Mischung aus Überraschung und Freude eine kleine Ansammlung von Hütten. Mannshohe Hütten, in einem Kreis angelegt — und in ihrer Mitte konnte man winzige Punkte sehen, die Harkins erst nach einigem Hinsehen als Menschen erkannte.
Eine Kolonie?
Ein Gefangenenlager?
Die Leute im Dorf hatten den Riesen erblickt und sammelten sich jetzt in einem Knäuel. Sie gestikulierten und deuteten. Der Riese näherte sich dem Dorf bis auf etwa hundert Meter, blieb dann stehen und setzte Harkins sachte auf den Boden.
Von seiner langen Reise in der Hand des Giganten benommen, taumelte Harkins, stolperte dann und stürzte. Er wartete schon darauf, daß der Riese sich bückte und ihn wieder aufhob, statt dessen drehte er sich um und verschwand wieder in den Wald, ebenso mysteriös wie er gekommen war.
Harkins stand auf. Er sah einige der Leute auf sich zurennen — wild aussehende Männer und Frauen. Plötzlich wurde ihm klar, daß er sich in der Hand des Riesen vielleicht in größerer Sicherheit befunden hatte …
2.
Insgesamt waren es sieben. Fünf Männer und zwei Frauen. Diese sieben waren vermutlich die Tapfersten. Die übrigen blieben zurück und beobachteten ihn aus dem sicheren Schutz ihrer Hütten.
Harkins stand da und wartete auf sie. Als sie näherrückten, hob er die Hand.
„Freund“, sagte er mit lauter Stimme. „Frieden!“
Die Worte schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Die sieben hielten inne und bildeten einen Halbkreis um Harkins. Der größte von ihnen, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit ungepflegtem, langem, schwarzem Haar, massigen Zügen und tiefliegenden Augen, trat vor.