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Es war ein beunruhigender Gedanke, der ihn für ein paar Minuten seiner ganzen Kraft beraubte. Er war sich seiner eigenen Schwächen sehr wohl bewußt, hatte sich aber bisher doch immer als den Herrn seines eigenen Geschickes betrachtet. Aber das war er nicht.

Also gut — und wie geht es von hier aus weiter? dachte er.

Keine Antwort bot sich ihm an. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß sein Spieler — also das Wesen, das die ,Figur’ auf dem ,Brett’ bewegte, im Augenblick wohl anderweitig beschäftigt war. Er stand auf und begann tiefer in den Wald einzudringen.

Diesmal schritt er sehr vorsichtig aus und achtete bei jedem Schritt darauf, ob nicht hinter dem nächsten Baum wieder eine verhängnisvolle Überraschung seiner harrte. Diesmal war möglicherweise kein helfender Roboter zur Stelle, dachte er.

Jetzt schien der Wald wieder ganz ruhig. Harkins war schon eine ziemliche Strecke von Jörns Dorf entfernt und drang doch noch bei jedem Schritt tiefer in den Wald ein. Es begann schon Nachmittag zu werden, und er fing an zu ermüden.

Er kam an eine sprudelnde Quelle und ließ sich erleichtert daneben nieder. Das Wasser sah frisch und klar aus, und er tauchte die Hand hinein. Allein die erfrischende Kühle der Quelle war eine Labsal.

Dann schöpfte er mit beiden Händen Wasser und führte es zögernd an die Lippen.

„Trink nur“, sagte eine trockene Stimme plötzlich. „Das Wasser ist gut.“

Harkins sprang wie von einer Feder geschnellt in die Höhe. „Wer hat da geredet?“

„Ich.“

Er sah sich um. „Ich sehe niemand. Wo bist du?“

„Hier oben auf dem Felsen“, sagte die Stimme. „Hierher mußt du sehen.“

Harkins drehte sich in Richtung zu der Stimme — und sah den Mann, der gesprochen hatte. „Wer — was bist du?“

„Die Menschen nennen mich den Wächter“, kam die ruhige Antwort.

Der Wächter saß auf dem mächtigen Felsen, durch dessen Spalte das kleine Flüßchen plätscherte. Harkins sah einen Mann, oder etwas einem Manne Ähnliches mit graugrüner, großporiger Haut, blassen glasigen Augen und winzigen Armen. Sein Mund war groß und zog sich jetzt zu einer Grimasse zusammen, die vermutlich als freundliches Lächeln gedacht war.

Harkins trat einen Schritt zurück. Sein Erstaunen war ihm deutlich anzumerken.

„Ich bin nicht hübsch“, sagte der Wächter. „Aber du brauchst nicht davonzulaufen. Ich tue dir nichts zuleide. Nur zu — trink, und dann können wir uns unterhalten.“

„Nein“, sagte Harkins etwas besorgt. „Wer bist du denn überhaupt? Was tust du hier?“

Die dicken Lippen des anderen verzogen sich zu einem geringschätzigen Lächeln. „Was ich hier tue? Ich bin jetzt schon seit zweitausend Jahren hier. Ich könnte dich fragen, was du hier tust,“

„Ich — ich weiß nicht“, sagte Harkins.

„Ich weiß, daß du das nicht weißt“, spottete der Wächter. Er kicherte, und sein gelblicher Bauch schlotterte dabei. „Natürlich weißt du das nicht — wie solltest du auch?“

„Ich mag Rätsel nicht“, sagte Harkins. Er ärgerte sich und empfand die eigenartige Unwirklichkeit der Unterhaltung. „Was bist du?“

„Ich war einmal ein Mann.“ Plötzlich klang die Stimme nicht mehr spottend. „Meine Eltern waren Menschen. Ich — bin das nicht.“

„Eltern?“

„Vor Tausenden von Jahren. In den Tagen vor dem Krieg. Ehe die Sternriesen kamen.“ Der breite Mund des anderen verzog sich. „In der Welt, die einmal war — der Welt, aus der man dich herausgeholt hat, du Ärmster.“

„Was weißt du von mir?“ wollte Harkins wissen.

„Viel zuviel“, sagte der Wächter müde. „Trink zuerst, dann will ich es dir erklären.“

Harkins Kehle fühlte sich an, als hätte man sie mit Sandpapier abgerieben. Er kniete nieder und trank. Schließlich stand er wieder auf. Der Wächter hatte sich nicht von der Stelle bewegt, er saß immer noch auf dem Felsen, die winzigen nutzlosen Arme gefaltet, als wollte er damit die menschliche Haltung parodieren.

„Setz dich“, sagte der Wächter. „Ich muß dir eine Geschichte erzählen, die zweitausend Jahre umfaßt.“

Harkins nahm auf einem Stein Platz und lehnte sich gegen einen Baumstumpf. Der Wächter fing zu reden an.

Die Geschichte begann in Harkins’ eigener Zeit, oder kurz nachher. Der Wächter schilderte die Geschichte der Zivilisation, die sich in den ersten Jahrhunderten des dritten Jahrtausends entwickelt hatte, berichtete vom Wachsen der unterirdischen Städte und dem Volk, das die Roboter gebaut hatte, die noch heute durch die Wälder streiften.

Es hatte Krieg gegeben, der diese Gesellschaft völlig vernichtet hatte, abgesehen von einigen wenigen Gruppen von Überlebenden.

Auch einige Städte hatten den Krieg überstanden, aber die Menschen, die die Robotgehirne gelenkt hatten, waren nicht mehr, und die Roboter fuhren fort, die Pflichten zu erfüllen, die ihnen zuletzt übertragen worden waren. Die unterirdischen Städte waren von nun an tabu, wenn auch wilde Gruppen von Menschen über ihnen lebten, die jedoch nie in die ‚Unterwelt’ einzudringen wagten.

Tief unten in den Gängen und Tunnels der Toten lebten die mutierten Abkommen der Städtebauer. Die ,anderen’, jene, von denen auch Jörn gesprochen hatte. Die meisten von ihnen lebten in den Städten, einige wenige auch in den Wäldern.

„Ich bin einer von diesen“, sagte der Wächter. „Ich habe mich seit dem Jahr, in dem die Sternriesen kamen, nicht von dieser Stelle bewegt.“

„Die Sternriesen“, sagte Harkins. „Wer ist das?“

Die schmalen Schultern des anderen zuckten. „Sie kamen von den Sternen, lange nachdem wir uns selbst vernichtet hatten. Sie leben hier und beobachten die Überlebenden mit großer Wißbegierde. Sie spielen mit den Stämmen, bringen sie in Konflikt miteinander und studieren die Ergebnisse mit großem Interesse. Aus irgendeinem Grunde belästigen sie mich nicht. Sie scheinen nie hier vorbeizukommen.“

„Und die Roboter?“

„Die werden bis ans Ende aller Zeiten so bleiben, wie sie jetzt sind. Nichts kann sie zerstören, nichts kann sie von ihrer einmal übernommenen Aufgabe abbringen — und nichts kann ihnen befehlen.“

Harkins lehnte sich vor. Der Wächter hatte ihm all seine unausgesprochenen Fragen beantwortet — mit einer Ausnahme.

„Weshalb bin ich hier?“ fragte er.

„Du?“ Der Mutant lachte. „Du bist der Zufallsfaktor. Es würde das ganze Spiel zerstören, dir zu viel zu sagen — aber eines will ich dir noch sagen: Du kannst nach Hause zurück, wenn es dir gelingt, die Roboter unter deine Kontrolle zu bringen.“

„Was? Wie?“

„Das mußt du selbst herausbekommen“, sagte der Wächter. „Ich werde, blind wie ich bin, nach dir sehen — aber ich werde dir nicht mehr helfen, als ich schon getan habe.“

Harkins lächelte und sagte: „Und was ist, wenn ich dich zwinge, es mir zu sagen?“

„Wie würdest du das anstellen?“ Wieder zogen sich die weißen Lippen zusammen. „Wie könntest du mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will?“

„So zum Beispiel“, sagte Harkins in plötzlich erwachender Wut.

Er zerrte den Stein, auf dem er saß, aus dem Boden und stemmte ihn in die Höhe.

Nein.

Es war ein stummer Befehl. Der Stein fiel aus Harkins plötzlich kraftlosen Händen und plumpste auf den Boden. Harkins sah auf seine Finger.

„Kannst du mich also zwingen?“ wiederholte der Wächter ruhig.

„N-nein“, antwortete Harkins zögernd.

„Gut. Erkenntnis der eigenen Schwäche ist der erste Schritt zur Stärke. Du sollst wissen, daß ich dich absichtlich hierhergebracht habe, daß du während dieser ganzen Unterhaltung nicht aus freiem Willen gehandelt hast und daß ich durchaus imstande bin, deine zukünftigen Handlungen zu bestimmen, wenn ich das für nötig befinde. Aber ich habe eigentlich keine besondere Lust, mich einzumischen.“