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Die Sonne schien warm, obwohl der Wind immer noch recht kühl war. Junge, grüne Grashalme, wilde, lila Krokusse und Hyazinthen lugten überall zwischen den restlichen, dreckigen Schneeklumpen hervor. Der schwere, moderige Duft von getauter Erde und Würmern und feuchtem Gras begeisterte Tolpan genauso sehr wie sonst nur gutes Essen und Bier. Der Kender nahm den schweren Matsch kaum zur Kenntnis, der an seinen frisch geputzten Hirschlederstiefeln hängenblieb und seine hellblauen, engen Hosen bespritzte, während er mit wippendem Haarknoten die Straße entlanghüpfte.

Als er auf einem kleinen Hügel ankam, genoß Tolpan entzückt die Aussicht, die sich ihm darbot. Er setzte sich auf einen kalten, aber trockenen Felsvorsprung, wobei er die Spitze seines Hupaks in die weiche Erde trieb. Dann klappte er die Lederröhre an seinem Gürtel auf und zog eine Karte von Abanasinia heraus. Dabei kam auch ein Armband zum Vorschein, das klirrend auf den Felsen fiel und dort in immer enger werdenden Kreisen herumrollte, bis es direkt neben Tolpans Füßen liegenblieb.

»Was ist denn das?« wunderte der sich, doch in dem Moment, wo er es aufhob, erkannte er bereits Flints ungewöhnliches Kupferarmband. »Meine Güte, dieser Flint Feuerschmied paßt aber auch wirklich nicht auf seine Sachen auf. Wieso steckt er das denn in meine Kartenröhre?« Nach kurzem Überlegen streifte Tolpan sich das Armband über das Handgelenk. »Das muß ich so schnell wie möglich nach Solace zurückbringen, und daran erinnere ich mich am besten, wenn ich es hier an meinem Handgelenk behalte, wo ich es sehen kann. Flint wird schon außer sich sein vor Kummer. Aber er freut sich bestimmt, wenn er mich wiedersieht!«

Doch zunächst gab es wichtigere Dinge. Ganz Abanasinia war von niedrigen Bergketten mit engen, bewaldeten Tälern durchzogen. Im Westen beherrschten drei Gipfel das Bild der Landschaft: der größte war nur ein paar Meilen von Tolpan entfernt, während die beiden kleineren in einiger Entfernung dahinter lagen. Tolpan war neugierig, ob sie wohl Namen hatten. Der nähere war ein prachtvoller Anblick mit seinen grünen, zerklüfteten Hängen, die zum Gipfel hin immer weißer wurden. Ein paar kleine Wolken hingen um die Spitze herum. Wenn er noch keinen Namen hatte, überlegte Tolpan, dann würde er ihm gerne selbst einen geben.

Tolpan rollte die Karte aus, breitete sie auf seinem Schoß aus und fuhr seinen Weg seit Solace mit dem Finger nach. »Hmm, muß der Betende Gipfel sein«, murmelte er laut vor sich hin. »Was für ein komischer Name. Ich frage mich, was er bedeutet. Bestimmt gehört eine interessante Geschichte dazu.« Mit Enttäuschung registrierte Tolpan, daß die Berge hinter dem Betenden Gipfel den wenig einfallsreichen Namen Doppelspitze trugen.

Insgesamt war die Karte ziemlich wenig detailliert, denn sie zeigte nur die Küste, wichtige Straßen und andere bedeutsame Merkmale für Reisende. Die neue Straße im Süden von Solace, auf der Tolpan unterwegs war, hieß passenderweise Südstraße, was auch so auf Tolpans Karte stand. Sie folgte einem Fluß, der sich durch die niedrigen Hügel an der Nordostgrenze des Düsterwalds schlängelte.

Der Düsterwald im Südwesten von Tolpans Standort hatte seinen Namen von den ruhelosen Seelen, die dort herumspukten. Selbst ohne diesen Ruf hätte der große Bergwald abschreckend gewirkt, denn Tolpan wußte, daß solche Wälder von tückischen Wasserrinnen, Brombeerranken, Morast und dunklen Höhlen nur so wimmelten. Er wußte zwar, daß Düsterwald wahrscheinlich auch freundlichere Waldwesen wie Dryaden, Zentauren und Pegasi beherbergte, doch das machte seine schattigen Tiefen auch nicht einladender.

Haven, die Hauptstadt jener Gruppe religiöser Fanatiker, die als die Sucher bekannt waren, und das Tal von Haven markierten die Westgrenze des Waldes. Im Nordwesten lagen die Doppelspitze und das Sternenlichttal, die Heimat der Pegasi. Und fünfundzwanzig Meilen neben der Doppelspitze bildete der Weiße Fluß sowohl die Südgrenze des Düsterwalds als auch den Nordrand der Elfennation Qualinesti.

Damit diese Karte wirklich nützlich wäre, fand Tolpan, brauchte sie noch viel mehr Eintragungen: kleine Flüsse, Täler, Höfe, ungewöhnliche Bäume oder Felsen und gute Lagerplätze. Er zog einen Federkiel, ein Gläschen Tinte und ein kleines Messer aus seiner Kartenröhre, woraufhin er dem Kiel dann sorgfältig eine neue, scharfe Spitze schnitt. Danach legte er seinen Lederbeutel als Unterlage unter die Karte und zeichnete ein paar Hartriegelbäume. Ihre auffälligen weiß-rosa Blüten waren so schön, daß man sie unmöglich übersehen konnte.

Nach mehreren Minuten sehr präziser Arbeit griff Tolpan nach dem Sack auf seiner linken Seite. Der enthielt unter anderem eine Flasche mit kühlem Wasser, das er für unterwegs mitgenommen hatte. Kartenzeichnen machte ihn immer durstig. Aber ein ungewöhnliches Gefühl an seinem Handgelenk lenkte ihn ab: Das schöne Kupferarmband dort fühlte sich unangenehm heiß an. Bestimmt kam das von der Sonne, die darauf schien. Als er hingriff, um das Schmuckstück abzuziehen, verschwamm die Welt um ihn herum, und Tolpan kam sich vor, als würde er mitten in den Himmel kullern. Würzkartoffeln und Enteneier kamen ihm hoch. Er wollte sich flach an den Felsen werfen, doch er war sich nicht sicher, wo der lag. In diesem Zustand völliger Orientierungslosigkeit tauchte aus dem Nichts plötzlich ein Bild in seinem Kopf auf. Einen kurzen Augenblick nur sah er sich selbst, wie er in seinen Sack griff und dann nach einem heißen Schmerz zurückzuckte und eine rote Schwiele an der tintenbeschmierten Spitze seines Mittelfingers anschwellen sah.

So plötzlich, wie sie gekommen waren, waren Schwindel und Vision verflogen. Tolpan blinzelte und sah sich um. Sein Sack lag hinter ihm, und sein Finger war unversehrt. Er rieb über die Stelle, nur um ganz sicher zu gehen. Das war aber mal ein schönes Rätsel. Ganz aus dem Häuschen vor Neugier schüttete der Kender den Inhalt seines Sacks auf dem kalten Stein zu seinen Füßen aus. Unter der Flasche, etwas Schnur und zwei Stücken Trockenfleisch ragten die haarigen Beine einer Giftspinne hervor!

»Mann!« rief Tolpan lauthals aus. »Wenn ich meine Hand da reingesteckt hätte, wäre ich gebissen worden. Das war wie eine Vision – ich habe gesehen, was passieren würde! Ich hab von Leuten gehört, die so etwas können, aber ich hätte nie gedacht, daß ich dazu gehöre.«

Achselzuckend klopfte er sich ans Brustbein. »Ich frage mich, ob das die drei Portionen Würzkartoffeln waren. Ich habe noch nie soviel auf einmal gegessen.« Mit dem ausgefransten Ende seines Federkiels schnipste Tolpan die Spinne von dem Stapel seiner Habseligkeiten und sah zu, wie sie sich eilig unter einem Stein in Sicherheit brachte. Als er die Sachen in seinen Beutel zurückräumte, kam er nicht umhin, das Armband an seinem Handgelenk zu bewundern.

»Das muß ich diesem Flint wirklich zurückgeben. In der Sonne wird es furchtbar heiß, und mein Handgelenk wird von dem Kupfer bestimmt grün.« Danach vervollständigte Tolpan seine Aufzeichnungen auf der Karte (indem er »Spinnenfelsen« neben die Straße schrieb), schraubte das Tintenfläschchen wieder zu, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche, packte seine Siebensachen zusammen, warf sie sich über die Schulter und lief munter weiter nach Süden, immer weiter von Solace und Flint Feuerschmied fort.

Unterwegs bemerkte Tolpan, daß die Straße in den dunklen Wald führte, um ein paar schroffe Berge weiter vorn zu umgehen. Das schreckte ihn nicht – Kender sind ganz allgemein für ihre Furchtlosigkeit bekannt –, aber ihm kam der folgende Gedanke: Wenn etwas Böses auf der Straße unterwegs war, wäre dies der Ort, wo es zuschlagen würde. Nur sicherheitshalber zog er seinen Gürtel und die Packriemen fester und suchte sich auf der Straße einen glatten, handflächengroßen Stein. Er war ein recht guter Schütze mit seinem Hupakstock. So ein geschleuderter Stein konnte einen größeren Stein zerschmettern oder einen Arm oder ein Bein brechen. Als er das einfache Geschoß aufhob, tat ihm derjenige, der ihm möglicherweise in die Quere kommen würde, einen kurzen Moment lang aufrichtig leid.

Dieser Gedanke verschwand rasch, als Tolpan bemerkte, daß Flints Kupferarmband an seinem Handgelenk wieder unangenehm heiß wurde. »Wenn du mich weiter ärgerst, dann steck ich dich in meinen Beutel, und da vergeß ich dich bestimmt«, schalt er, als wollte er dem Ding drohen. »Dann kannst du ja sehen, wie du je zu deinem Besitzer zurückkommst!«